Freitag, 15. Februar
Ich müßte Uri fragen, wie er Esthi verträgt. Ich kann ihn aber morgen nicht sehen. Edith und er sind das ganze Wochende damit beschäftigt, Babynahrung am Gaza-Streifen zu verteilen. Seine Einstellung zu den Palästinensern ist eindeutig geblieben trotz den schlechten Erfahrungen, die er mit einem palästinensischen Untermieter gemacht hat, was eine große Enttäuschung für ihn bedeutete. [Das Thema "Dora und Ihab" oder "Kommune La Guardia 67" ist ein Thema für sich, spannend und eindrücklich, aber gehört nicht hierher. Ich habe seither noch viele schlechte Erfahrungen mit Palästinensern gemacht, aber immer noch weniger, als die Palästinenser selber schlechte Erfahrungen mit Palästinensern gemacht haben, und immer noch weniger, als ich schlechte Erfahrungen mit Israelis gemacht habe. Darf ich erwähnen, dass ich auch schlechte Erfahrungen mit Deutschen, Österreichern und Schweizern gemacht habe? Meine "Einstellung zu den Palästinensern" hat tatsächlich wenig mit "schlechten Erfahrungen mit Palästinensern" zu tun, genauso wenig meine Einstellung zu Obdachlosen, Arbeitslosen, Staatenlosen, Hoffnungslosen und Sprachlosen. Und umgekehrt auch meine Einstellung zu Humorlosen, Phantasielosen, Gedankenlosen, Leblosen, Fassungslosen, Kompromisslosen und Makellosen.]
Heute Morgen holte ich mit Esthis Auto meinen Koffer bei Uri ab. Er spielte Klavier, als ich kam – wenn schon die Wohnung meiner Kinder klassische Musik ausstrahlt, wie wunderschön, wenn sie selbstgemacht ist! Ich genoß es eine ganze Weile, dazusitzen und zuzuhören. Außerdem fiel mir auf, daß sein Gesicht auffallend sauber aussah; er hat sich den Bart abrasiert, aber das begriff ich erst nach einer Weile. [Ich weiß nicht mehr, ob ich das abgeschrieben hab: Hilde beschrieb irgendwann, dass mein Bart nicht gut mit der Gasmaske kommunizierte…]
Als ich wieder zurückkam in die Aharonowitz, waren meine Großen ausgeflogen, und ich geriet in Panik – aber natürlich waren sie den Ehering kaufen gegangen. Doron, ein Schlamp wie ich, hatte schon lange bemerkt und uns erzählt, daß sein Ehering zu lose saß und leicht abrutschte, aber er zog ihn trotzdem nicht aus, auch im Militärdienst nicht, und diese Woche hat er ihn verloren. Ich muß Esthi bewundern, daß sie ihm so einfach verzeiht und jetzt mit ihm einen neuen Ring kaufen gegangen ist.
Um zwölf Uhr die Theateraufführung des Hamlet im Kameri-Theater am Disengoff-Platz. [Es ist die Rede der legendären Inszenierung von Rina Jeruschalmi mit Schuli Rand in der Hauptrolle, der schon längst ultrareligiös geworden ist – welch ein Verlust! Zu dieser Aufführung hier zwei links in englisch: ITIM NYTIMES ] Sie war einzigartig. Eine völlig neue, moderne Konzeption, und doch im Sinne des alten Shakespeare: von der Einteilung in Bühne und Zuschauerraum, der aus je zwei Sitzreihen an drei Seiten eines quadratischen Raumes bestand, über Kostüme bez. Nicht-Kostüme – die Schauspieler erschienen in moderner Alltagskleidung – bis zur ausdrucksvollen Sprache und Gestik voller Dramatik und Leidenschaft. Der Kampf Hamlets mit dem Geist seines Vaters ist ein Ringkampf am Boden; Ophelia ertrinkt und sinkt hin im Zeitlupentempo. Dies ist Leben, eingefangen und wiedergegeben, dies ist Theater, wie ich es mir vorstelle. Keine stilisierten, steifen Gesten, keine hohlen Deklamationen. Die Choreografie voller Ideenreichtum: beim Dialog gehen die Dialog-Partner wie Leoparden im Käfig rund herum auf dem Kreidekreis, der die Bühne markiert: so ist keine der drei Zuschauerseiten bevorzugt oder benachteiligt. Dennoch gibt es einen Bühnen-"Hintergrund", auf dem in einer Reihe alle Schauspieler stehen, die gegenüber der Hintergrund-Reihe sitzen, aufstehen und auf der Gegenseite Platz nehmen müssen. Die Schauspieler dieser Theatergruppe selbst werden doppelt dargestellt: eine Garnitur spielt vorne in Pantomime, die andere steht hinten, bewegungslos, und deklamiert.
Nachhaltig in seiner Eindrücklichkeit Hamlets Tod. Sekundenlang schaut er einem Soldaten stumm in die Augen, dann schließt dieser ihn in die Arme, und Hamlets Mund entringt sich ein Todesschrei, der den Raum bis zur hintersten Ritze durchdringt.
Ich ging weinend nach Hause – weinend vor Freude über das wunderbare Spiel. Ich werde noch viele Jahre an diesen Gang, diese Minuten denken müssen. Und dann wurde alles vollkommen chaotisch.
Zuerst fühlte ich mich wieder verwöhnt und auf Händen getragen: zu Hause hatten sie mit dem Essen auf mich gewartet!
[Danach folgt ein großer Streit mit Esthi, Stichwort: Plastiksäcke …]
[…]
Auf der Straße sind viele Autos, aber keine Menschen; auch längst nach Mitternacht, ist dies für die "Stadt ohne Ende" ungewöhnlich. Ich denke an Hamlet und an meine persönliche Frustration – nicht an den Krieg. Wir sind kriegsmüde geworden. Aber auch hart und scharf. Im Rinnstein liegt ein abgerissenes Puppenbein neben einem Zigarettenstummel mit Filter.
Eita hat sich gerächt. Warum habe ich an ihrem hundertfünfzigsten Geburtstag nur an Hamlet gedacht? Warum habe ich sie nicht mit einbezogen, als ich heute Mittag vor Freude weinend nach Hause ging?
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[Sehr berührend, wie da plötzlich Eita aus dem Nichts auftaucht, ohne Erklärung… Gestern habe ich auf Facebook Nina S. geantwortet, die schrieb: " hildes stimme aus der vergangenheit – wie vertraut sie klang, obwohl ich sie so oft gar nicht getroffen hatte – aber ich hab sie klar vor mir gesehen. ein kurzer moment magischer überlagerung von damals und heute, danke!" – " Danke fürs zuhören! Ich weiss, wie Dir zumute ist. Mutter gibt's nur eine…" Das "Mutter gibt's nur eine" hab ich aus dem Hebräischen übersetzt, es stimmt aber nicht. Meine Mutter zum Beispiel hatte zwei. Eita war die eine. Bis heute weiß ich nicht genau, was das für eine Beziehung war, denn ich war zwei Jahre alt, als sie starb.]
Ja, also wie ich schon mehr als dreißigmal hier schrieb: Ich konnte nicht anders und habe Wolf Biermann auf seinen Artikel in der Zeit geantwortet:
https://abumidian.wordpress.com/deutsch/biermann
den streit um die plastiksäcke haben wir immer wieder geführt, und an den hier erinnere ich mich. kleine plasticksäcke aus dem abfall grübeln?! wie wunderbar die vergangenheit hier so neu zu leben – auch die streite… 😉 x