Purim, Donnerstag, 28. Februar
Amram steht in der Küche und presst Orangen aus für Saft. Das geht mit einer elektrischen Maschine eins zwei husch, und die Hälfte der Orange wird fortgeworfen, nicht wie bei Uri, der alles noch einmal durch ein Sieb drückte, damit nichts vom Fruchtfleisch verloren geht. Das Radio läuft, aber ich verstehe nichts bei dem Lärm, und Amram sagt, der Krieg sei aus.
Wir sind etwas ratlos darüber, warum die Amerikaner nicht weitergemacht haben, bis Bagdad fällt; die irakische Armee ist zerschlagen, seltsam, wie Saddam Chussein sich immer noch hält. Aber es ist schon gut, daß alles vorbei ist.
Dann kann ich ja nach Hause gehen. Wenn Doron nicht im Militärdienst wäre – Uri hat mich vom Purimfest ausgeladen, obschon die ganze Gruppe der jungen Leute dabei war, die ich kenne, auch Esthi. Ich bin hier vollkommen üebrflüssig geworden. Ich werde mit einer saftigen Depression nach Goßau zurückkehren. [Soll ich mich jetzt entschuldigen, Ima? Dafür, dass ich als Fünfundzwanzigjähriger eine Party gemacht habe ohne Mama?]
Joni darf alles. Er will nicht zum Frühstück kommen, sondern sein Videospiel weiter betreiben, und wir müssen den Lärm vom Durchgangszimmer aushalten. Später kräht er: "Ich will ein Ei, Ima!" und Amram steht sofort auf und brät ihm ein Spiegelei. Ruth erklärt dieses Verhalten: "Der Junge ist vollkommen verängstigt nach diesen sechs Wochen Spannung. Er kann sich darüber nicht äußern, aber er ist vollkommen wild geworden." – Nun, wenn ihn solche Ängste quälen, braucht man ihn nicht brutale Videos spielen zu lassen. Er steht morgens um fünf auf und geht an den Fernsehapparat. [Ruth ist übrigens Psychologin.]
Ich werde Sonntag versuchen, meine Reise vorzuverlegen. Ich denke, Uri hat nichts dagegen, wenn ich endlich abreise. Ich muß Esthi fragen, ob Doron mich noch sehen will, er kommt nächsten Dienstag raus. Aber das ist doch Unsinn. Ich muß mich vors Haus setzen, um mich vor dem Lärm von Jonis Videospiel zu schützen. Es ist wieder kalt wie im Winter, ich muß Pullover und Jacke anziehen.
28. Februar, mittags
Friede bei heller Sonne in Jaffo. In den Zwölfuhr-Nachrichten hörte ich zum ersten Mal in vollem Wortlaut, daß die Masken auseinandergeschraubt und eingepackt werden sollen, und man solle die riesigen Plastikverschalungen von den Fenstern der verstopften Zimmer nicht in den Abfall werfen, sie würden eingesammelt werden. Es gibt also doch eine Spur von Bewusstsein für Umweltschutz in Israel.
[…]
Die Menschen auf der Straße sind von gedämpfter Fröhlichkeit, die Verkleidungen und Masken nett und lustig, aber keine originell genug, daß sie es wert gewesen wäre, beschrieben zu werden. Ein wenig enttäuschend. Ich hätte mir mehr erhofft von einem Friedenstag, der pünktlich zu einem Freudenfest eintrifft, und dann noch so haarscharf sinngemäß: der böse Haman – Saddam – wird aufgehängt, das Glück des Volkes siegt. [Mein Kommentar dazu]
Bin ich denn fröhlich?
Ich sehe keinen Zusammenhang. Ich fühle mich ausgesondert, weil ich alt bin. Noch jahrelang werde ich mich an das Freudengetümmel auf der Passantanüberbrückung am Disengoffplatz erinnern, aber im Augenblick schmeckt es mir schal. Neben dem Springbrunnen ist hoch oben eine Bühne errichtet worden, grellfarbige Darbietungen finden statt, vom Lautsprecher weithin getragen, aber auch dies scheint mir nicht wert zu sein, in meinen immer verwirrteren Notizen aufgenommen zu werden. Das einzige, das mir imponiert, sind die Späße der Kinder und Jugendlichen, die sich aus Spraydosen mit Seifenschaum und Gummischnüren bespritzen. Plötzlich kriegt einer einen Klatsch Schaum in den Nacken oder findet sich gefesselt in einem Geflecht von Kaugummi. Das Zeug ist harmlos, der Schaum verdunstet und brennt nicht in den Augen, nichts klebt oder hinterläßt Flecken in den Kleidern. Dennoch gibt es einige ältere Frauen (die meine Kinder sein könnten), denen jeder Humor abgeht und die zu keifen anfangen, es sei unanständig, fremden Leuten Schaum ins Gesicht zu spritzen. Warum sind sie dann auf die Straße gekommen? Ich wünschte, mir würde auch ein Kind Schaum ins Gesicht spritzen, aber offenbar halten sie mich für zu alt dazu. Ich muß froh sein, wenn mich etwas wenigstens am Ärmel trifft oder ein paar Plastikschlangen meine Handtasche einwickeln.
Wir kämpfen uns durch zur Falafelbude unten auf der Straße, kaufen für jeden ein Stück Pizza und müssen aufpassen, daß wir uns nicht aus den Augen verlieren. Ich spendiere Joni drei oder vier Spraydosen, und für eine halbe Stunde schließen wir Freundschaft mit einer anderen Mutter und ihrem zehnjährigen Jungen, der mit Joni herumtollt.
Die Vorführungen auf der Festbühne sind zu Ende, und bald danach zerstreut sich die Menge. Auch wir verlassen den Disengoffplatz. Mein Blick fällt auf das Zurückgelassene. "Mein Gott!" entfährt es mir. "Schau die Hunderte von Spraydosen in den Abfallkörben und am Boden – Ruth, was für ein Treibgas ist denn da drin gewesen? Ich selbst habe Joni diese Spielereien gekauft – was haben wir bloß gemacht!"
"Ach hör doch auf", sagt Ruth. "Meinst du, wenn einmal im Jahr Purim ist, wird das Ozonloch größer?"
[… ein kleines "Gezeter" zwischen Ruth und ihrem verwöhnten Sohn Joni…] Als Krönung des Debakels fliegt ihm der Luftballon weg.
"Schau!" sagt Ruth. "Dein Ballon ist jetzt zu einer Rakete geworden." Bei Joni sind die Tränen gleich weggewischt. Er strahlt: "Ja, und mit einem Sprengkopf. Es ist doch Gas darin."
Der Ballon steigt höher und höher in hellgraues weißes Gewölk. Er wird ins Landinnere getrieben. "Ist er denn jetzt noch in Israel?" fragt Joni. "Oder schon im Irak?"
[…]
Vor der Parkgarage kommen wir durch die Straße, wo Esthi und Doron wohnen. Hoch oben auf ihrem Balkon blüht einen erste gelbe Tulpe; ein Vogel will sie abpicken, es gelingt ihm nicht. Es bedrückt mich, daß ich Esthi so lange nicht gesehen habe, obschon ich viele Stunden in der Nähe war, und daß keins meiner Kinder mich zu Purim dabei haben wollte. Ruth fährt in den Norden der Stadt zu ihrem Vater. Es geht ihm in seinem hohen Alter recht gut, obwohl er allein leben muß; die Mutter ist mit der Alzheimer'schen Krankheit in einer Klinik.