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Der Weg nach Łomża

Mein Bruder bat mich, diese Geschichte zu erzählen.
Der Großvater meiner Urgroßmutter hieß Markus, und Mordechai. Sein Vater hatte die wahnwitzige Idee, seine Familie an einem Ort zu gründen, wo Juden bisher nie gelebt hatten: im Land der dunklen Wälder und kristallklaren Seen von Ostpreußen. Vor ein paar Jahren kam diese Gegend in die Endrunde der "sieben Weltwunder der Natur." Vor zweihundert Jahren, im Jahre 1807, um genau zu sein, kam es zu einer der Schlachten, die Napoleon mit dem "Frieden von Tilsit" zum mächtigsten Mann Europas machten. Markus' Vater, Isidor oder Isaac, war damals Bar Mitzwa. Vielleicht hatte er sogar schon damals diese Idee. Sieben Jahre später jedenfalls wurde Markus geboren, der älteste Sohn, in Johannisburg, einem Dorf 170 Kilometer südlich von Königsberg, 190 Meilen nördlich von Warschau. Seine beiden Namen, Markus und Mordechai, waren eine Andeutung für die schreckliche Nacht, die sich 16 Jahre später ereignete.
Mordechai ist Mordechai der Jude, aus der Geschichte von Esther, die an Purim erzählt wird und der seinen Hals gerade noch im letzten Moment aus dem Galgenstrick herausziehen konnte. Markus war einer der vier Evangelisten. Das Neue Testament erzählt, dass Markus von Paulus in seiner ersten Reise mitgenommen wurde, aber Markus machte schlapp und kehrte bei Pamphili um. Beides sind Vorzeichen für das, was dem Jüngling geschah, als er kaum 16 Jahre alt war.
Johannisburg wurde damals ein florierendes Städtchen. Sein Vater Isidor Borchardt handelte mit Holz, einer Ressource, die kein Ende hatte. Wo auch immer du hinsahst, und auch wenn du einen halben Tag ausrittst – Wälder. Oder Seen. Vor allem im Norden. Im Süden war die Grenze zu Polen. Und das Gerücht, dass es für Juden möglich war, sich in Johannisburg anzusiedeln, erreichte auch den polnischen Süden. Dort, auf der anderen Seite der Grenze zu Polen, traf Isidor den Gutsverwalter Isaak Stern in Łomża, dem er sein Holz verkaufte. Als der junge Markus ihn einmal begleitete, verliebte er sich in Sterns Tochter, Charlotte, die ein Jahr und zwei Monate jünger war.

Inzwischen wurde Osteuropa von stürmischen Tage überfallen. Zar Nikolaj I., der auch König von Polen war, hielt sich nicht an die Verträge, auf deren Basis das "Königreich Polen" errichtet wurde, als Markus noch ein Baby war, im Jahre 1815. Und im Jahre 1830 kam es zum Aufstand. Die "Revolutionsetüde" von Chopin ist nach diesem Aufstand benannt. Łomża lag nicht nur in der Nähe der Grenze zu Ostpreußen, im Norden, sondern auch sehr nahe der Grenze zu Russland, im Osten. Die zaristische Armee wurde rekrutiert und die polnischen Truppen mobilisiert, und viele kriminelle Banden nutzten die Zeit, und im Namen von allen möglichen Parolen trieben sie ihr Geschäft und kassierten blutigen Tribut. Die Straßen waren nicht sicher, und Isaac Borchardt handelte nicht mehr mit Łomża.
Markus sprach nicht mit seinem Vater über seine Gefühle, aber er konnte nicht aufhören, über Charlotte, auf der anderen Seite der Grenze, nachzudenken. Eines Nachts beschloss er, er müsse Charlotte sehen, egal was geschehe. Er wusste, es war verrückt, aber er beschloss, die nächste Nacht auszuziehen und die ganze Nacht zu marschieren. Nach seiner Berechnung war die Entfernung sechzig oder siebzig Kilometer, und wenn er die ganze lange Nacht ging, konnte er am Morgen ankommen. Die Nächte waren in dieser Zeit, im Dezember, eiskalt, aber der Marsch würde ihn am Leben erhalten. Mit diesen Plänen schlief er ein. Der nächste Tag war kurz, die Nacht brach bereits um drei Uhr nachmittags herein. Er würde genug Zeit haben. Er umarmte seine Mutter Anna, die wieder schwanger war, und seine Brüder und Schwestern. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er sie sah. Unsinn.
Entlang dem kleinen Bach, der vom Roschsee floss, führte der Weg in den Süden. Wie sehr er diesen See liebte! Er stellte sich vor, in der Dunkelheit marschierend, wie er seine Charlotte zum See führen würde, nur wenige Gehminuten vom Zentrum von Johannisburg entfernt, wo sie sitzen würden und sich den Sonnenaufgang anschauen würden. Und eines Tages würde er sie an den großen Spirdingsee bringen. Dieser war so groß, dass er wie ein Meer aussah. Nur weit im Norden konnte man das andere Ufer erblicken. Und sie würden in den endlosen Wäldern spazieren. Als er vom Marschieren ermüdete, machte er eine Pause, aber verstand schnell, dass er einfach erfrieren würde, wenn er noch eine einzige Minute so dasaß, und ging weiter.
Und plötzlich geschah es. Zwei Männer griffen ihn von hinten, er hatte sie nicht gehört, war in Gedanken versunken gewesen. Sie schoben ihn vom Weg zu einer kleinen Lichtung, wo ein Feuer brannte, und ein paar andere Kosaken erwärmten sich daran. Und auf der anderen Seite sah er eine andere Gruppe, ärmliche Figuren wie er selbst, die vor Kälte und Angst zitterten. Er war nicht also allein, es gab noch mehr Opfer. Markus verstand nicht genau, was los ist, aber es dauerte nicht lange, und die Kosaken begonnen, einen nach dem anderen an den Bäumen aufzuhängen. Dem Ältesten der Gefangenen sagten sie: "Du hast am meisten gelebt, du wirst der Erste sein." Und so war es. Und schon fühlte er an seinem eigenen Hals den Strick. Als er dachte, dass er das Bewusstsein schon verloren hatte, ohne dass er das "Schma Israel" gesagt hatte, wurde er plötzlich gefragt, wie die Männer am besten nach Łomża kämen. Er brauchte nicht zu viel nachzudenken, denn er hatte sich selbst für den Grenzüberschritt vorbereitet. Er sagte schnell: "Wir sind nah an der Grenze. Ich denke, es ist weniger als eine Stunde, sogar weniger als eine halbe Stunde. Geht noch 15 Minuten, dann geht runter rechts zum Fluss und geht dem Fluss entlang weiter. Nach einer Weile seht ihr von links einen anderen kleinen Bach in die Pisa einfließen, die Winzenta. Das ist die Grenze, aber es gibt dort keine Soldaten, sie sind oben auf dem Weg. Geht ein wenig weiter am Fluss entlang, dann könnt ihr wieder rauf auf den Weg. Die Kosaken beschlossen, ihm das Leben zu geben und erklärten ihm, dass dies ein Geschenk für seinen Rat sei und befahlen ihm zu laufen und nicht zurückzublicken. Das tat er, natürlich. Noch mehr als die Hälfte des Weges lag vor ihm, aber er ging jetzt schneller als die erste Hälfte. Er dachte: Warum nur hatte er diesen Verbrechern, diesen gemeinen Mördern, die richtige Information gegeben? Warum hatte er ihnen nicht empfohlen, geradeaus zu gehen, dann wären sie in die Hände der Grenzpolizei gefallen? Oder nach Osten hin? Aber dort lag Szczuczyn, ein Ort mit einer großen jüdischen Bevölkerung. Und die ganze Zeit verfolgten ihn die Bilder der Erhängten, die von den Bäumen hingen und deren Beine in der Luft baumelten. Wenn er nur für eine Sekunde mit der Antwort gezögert hätte, würden jetzt auch seine Beine in der Luft baumeln. Und während er so schnell marschierte, machte Mordechai der Jude ein Gelübde, er würde sein Leben der Thora widmen. Er kam bei Charlottes Vater erschöpft und fiebrig an, in den frühen Morgenstunden. Er schaffte es gerade noch, den verblüfften Versammelten zu erzählen, was geschehen war, und Stern gab die wichtige Information weiter. (Ich sollte Sztern schreiben, denn so schreibt sich der Name auf polnisch.) Gleich danach versank Markus in Schlaf, und Wärme- und Kältewellen schüttelten seinen Körper. Wochenlang lag er so da, und Charlotte kümmerte sich um ihn hingebungsvoll. Eines Tages fragte er sie: "Warum haben deine Eltern dich Charlotte genannt und nicht Rochele oder Rivkale?" Charlotte lächelte und antwortete: "Ich wurde geboren, als Polen eine Art von Unabhängigkeit erlangte. Es war eine Atmosphäre der Freiheit in der Luft, der Befreiung, und diejenigen, die diesen Geist verkörperten, waren die Franzosen." Mit diesen Worten prüfte Charlotte, ob der junge Markus zu ihr passte, und seine positive Reaktion bestätigte ihr: Der Junge ist richtig gewickelt. Als entschieden wurde, dass die beiden jungen Leute heiraten, wollte Markus sofort die Grenze überqueren und dies seiner Familie mitteilen. Aber Sztern hielt ihn auf: "Markus, das ist unmöglich. Und ich muss dir etwas sagen, dein Vater hat beschlossen, Johannisburg zu verlassen. Sie wohnen jetzt in Hohenstein." Markus war bestürzt. Hatten die Kosaken seine Familie bedroht? War seinen Geschwistern etwas zugestoßen? Seiner lieben Mutter? Oder war es die wirtschaftliche Situation, die Tatsache, dass der Handel mit den polnischen Nachbarn nicht weitergeführt werden konnte? Hohenstein war nicht viel größer als Johannisburg, aber es lag ein wenig näher an der Zivilisation und weiter weg von der russischen Grenze.
Markus kehrte nie wieder zurück nach Johannisburg, nicht zu seiner Familie, und nicht zu den Seen und Wäldern.
Łomża war viel größer als Johannisburg, mit einer alteingesessenen jüdischen Gemeinde. Diskin war der berühmte Rabbiner in der Stadt. David Yellin zog mit seiner Familie nach Jerusalem, und Rabbi Mosche Diskin (der Maharil) erbte von seinem Vater das Amt des Rabbiners der Stadt, als er 25 Jahre alt war, und als Markus' und Charlottes ältester Sohn eineinhalb Jahre alt war. Sie nannten ihn Isaac Isidor. Und nach einem weiteren Jahr wurde Markus zum Rabbiner von Tremessen in Pommern ernannt, und dort kamen Salomon und Zilusch zur Welt, die Mutter von Johanna, meine Urgroßmutter, die uns diese Geschichte weitergab. Und diesen Tag, als er aus dem Wald zwischen Ostpreußen und Polen trat, nach derselben Nacht, als der Galgenstrick ihm am Hals lag, diesen Tag feierte Markus seither als seinen Geburtstag, bis zum Ende seines langen Leben. Und wenn er nicht die richtige Antwort gegeben hätte, dann hätte es keinen Enkel gegeben, der in Hamburg die Reederei Borchardt gründete, und es gäbe heute nicht – auch nach dem schrecklichen Sturm der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, der viele umwarf – auf der ganzen Welt mehr als achtzig Nachkommen in Israel, Europa, Nord- und Südamerika und Hongkong.

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