MUTTER ZWISCHEN DEN FRONTEN
Viel zu lange weilt meine Mutter Hilde Shmerling-Becker nicht mehr unter uns, aber vor zwanzig Jahren weilte sie viel zu lange bei uns in Tel-Aviv. Zwei Söhne hatte sie in Tel-Aviv, als Saddam Hussein drohte, die Stadt dem Erdboden gleich zu machen: Doron und Uri. Doron war verheiratet mit Esthi (ist es immer noch), und ich, Uri lebte mit Idit, hier Edith genannt (wir heirateten im Sommer darauf, aber leben schon lange nicht mehr miteinander…). Sie entschied sich, uns beizustehen.
Darüber hat sie ein Tagebuch geschrieben mit dem Namen " MUTTER ZWISCHEN DEN FRONTEN ". In den letzten Jahren ihres Lebens hat sie fast alles, Romane, Gedichte und Tagebücher eingetippt und –gescannt, sodass wir es fast alles auf CD haben, aber dieses Tagebuch nicht. So tippe ich jetzt [Januar 2011] fleißig, jeden Tag werde ich dem geehrten Publikum einen Auszug von "Es geschah vor zwanzig Jahren…" darbieten.
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Von Hilde Shmerling ist übrigens, ganz in Klammern, ein Roman erschienen, im November 2012:
Abigail – Blick in die gläserne Kugel
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Da ich im Zeitraum Januar-März 2011 jeden Tag einen neuen Beitrag hinzusetzte, und da ich wollte, dass der neue Beitrag zuoberst erscheint, erscheint das Tagebuch hier vom letzten Tag , zuoberst, bis zum ersten Tag, zuunterst. Wer hier also heute auf diese Seite stößt, sollte von unten beginnen…)
MUTTER ZWISCHEN DEN FRONTEN
V) Purim
Purim, Donnerstag, 28. Februar
Montag, 25. Februar, spätabends
IV) Edith
III) Esthi
Mittwoch, 6. Februar – kein Eintrag!
II) Dollys Domäne
I) Feinde lassen bitten
[…]
Dienstag, 15. Januar, nachmittags
Heute überlege ich mir dass es sinnvoll ist, ein Tagebuch zu führen. Buch über die Tage des Schreckens – alles zu schildern, was in mir auf und ab steigt.
Diese ohnmächtige Angst, die mich von allen Seiten hält und die ich doch längst zugegeben habe, vor zwei Wochen schon, als ich beschloss, hierher zu kommen. Eine Angst, die ausgelebt sein will; die ich vor sechs Jahren in den Gedichten "Am Tag danach" zum Ausdruck brachte – die teuflische Angst vor dem absoluten Null, dem absoluten Schwarz, das auf uns kommt…
[…]
Heute abend wollen Esthi und Doron die Flasche Champagner aus dem Taxfree öffnen, weil morgen früh das Ultimatum ausläuft.
[…]
Dienstag, 15. Januar, abends I
Nach dem Abendbrot besprach Uri mit mir ein Theaterstück, in dem ein Traum die Hauptrolle spielt neben der Frau (die ihn träumt) und ihrem Mann. Wechselspiel zwischen Person und Leuchtkraft – gibt es Vieldeutbareres, als Abstraktes mit Konkretem parallel zu setzen? Die Welt wird zur Figur, und die Figur, aus sich herausgestülpt, zur Welt. – Ich genoss das geistige Duell mit meinem Sohn als seltenen Leckerbissen
Dienstag, 15. Januar abends II
[…] Edith und Uri kommen um elf wie versprochen, und wir telefonieren wie verabredet mit Tochter-Schwester Dani in Zürich. (Zwei Monate später wird sich Doron über die Telefonrechnung wundern, aber jetzt bin ich noch arglos.)
Kurz darauf öffnet Doron die Champagnerflasche (und jetzt: sich etwas wünschen – das Glas ganz austrinken – sich etwas wirklich wünschen und niemandem sagen, sonst bringts Unglück. Wie Silvester. […])
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[Fortsetzung folgt morgen…]
Ich habe übrigens während dieses Krieges an Wolf Biermann einen Brief geschrieben:
https://abumidian.wordpress.com/deutsch/biermann
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