Wadi Milech
ein Vortrag, den ich in Bern, am 2.12.2012 anlässlich der Finissage der Nakba-Ausstellung gehalten habe.
Ssalech erinnerte sich an jede Einzelheit. Er erinnerte sich, wie sie die Männer genommen hatten und die Frauen und Kinder nach Hause geschickt hatten. Sie hatten ihnen gesagt, dass alles in Ordnung sein würde, wenn sie nur gehorchen würden. Sein Vater hatte ihm mit einem Zeichen angewiesen, er solle sich hinter dem Leuchtturm verstecken. Als der Knabe zögerte, zischte sein Vater wütend: "Yalla, ruch!" – Geh Schon! und der Kleine wusste, dass er gehorchen musste. Er rannte zum Leuchtturm, die Tür stand offen und er trat ein. Stieg die Treffen hinauf, bis nach oben, und von dort sah er seinen Vater, mit noch andern Fischern, vor den Soldaten gehend, mit den Händen hinter dem Nacken. Zuerst nahmen sie die Jüngeren und befahlen ihnen, eine Grube zu graben. Firass, der Nachbar, lachte und sagte, er wisse nicht woher diese Juden kämen, aber im Sand buddeln, na, da werden sie nicht weit kommen. Der Soldat neben ihm gab ihm sofort einen harten Schlag mit dem Gewehr, und Firass fiel auf die Knie. Dann erschoss er ihn mit zwei Kugeln und fragte die andern, ob noch jemand etwas zu sagen habe. Alle gruben still. Ssalechs Vater war in der Gruppe der Ältern, ein wenig entfernt davon. Dann kam der Kommandant des Soldaten, der Firass erschossen hatte, und schimpfte sehr. Er schimpfte so, dass er alle Männer erschoss, die an der Grube arbeiteten. Ssalech erschrak sehr, und er wollte bei seinem Vater sein, oder wenigstens einen Blick mit ihm tauschen, aber irgendwie wusste er, dass er sich nicht bemerkbar machen durfte. Die Soldaten schrien sich an. Dann nahmen sie noch eine Gruppe von Männern, stellten sie mit dem Rücken zu sich auf und erschossen sie. Diesmal ohne Grund.
Ssalechs Vater stand immer noch da. Es wurde langsam dunkel, und Ssalechs sah, dass unter den Männern, die auf dem Boden lagen, auch sein Onkel Ssa'ad war. Der Kommandant sprach und sprach, und die Soldaten standen und bewegten sich nicht. Die Männer in der Gruppe von Ssalechs Vater wurden müde. Sie waren nicht mehr jung, und das Stillstehen mit den Händen hinter dem Nacken war sehr anstrengend. Zuerst verlagerten sie ihr Körpergewicht von einem Bein zum andern, wenn die Soldaten nicht hinschauten. Sie drängten sich aneinander, sodass sie sich aneinander stützen konnten. Aber dann fiel Dschalal vor Müdigkeit um. Einer der Soldaten wurde sehr wütend und schrie herum. Dann kam ein Befehl und die Männer begannen sich zu entfernen. Ssalechs Vater ging aufrecht und machte ihm noch ein Zeichen. Dann sah er sie nicht mehr. Plötzlich – ein Schuss, und Ssalech schrie: Yaba! Die Soldaten sahen sich um, wo der Schrei herkomme, und Ssalech versteckte sich, eng eingeklemmt und weinte, bis er einschlief. Dann spürte er plötzlich einen Schlag auf seiner linken Schulter und jemand sagte etwas auf hebräisch, er verstand nur "jemand" und "die Toten" und "begraben".
Die Toten lagen am Strand. Die Soldaten nahmen ihn und noch eine kleine Gruppe von Jugendlichen und befahlen ihnen zu graben. Stundenlang arbeiteten sie in der Dunkelheit. Er flehte Gott an, dass er sich geirrt hatte und sein Vater nicht unter den Toten sei. Mit jedem Toten, den sie begruben, stockte ihm der Atem. Alle kannte er, trotz der Dunkelheit. Und als er seinen Vater begrub, weinte er nicht, so wie die andern nicht weinten, als sie ihren Vater begruben. Auf dem Massengrab baute man später einen Kibbutz.
Das war ein kleiner Ausschnitt aus dem Roman "Wadi Milech", der in diesem Sommer in Israel erschienen ist. Die Autorin ist Orna Akad, Tochter bulgarisch-jüdischer Eltern, aber schon seit ihrer Jugend in engem Kontakt mit der palästinensischen Bevölkerung des Landes und auch mit einem Palästinenser verheiratet.
Der Roman handelt von zwei Hauptfiguren, einem Israeli und einer Palästinenserin aus Furadiss, südlich von Haifa, auf dem Hintergrund des Ausbruchs der Zweiten Intifada im Jahr 2000.
Hier noch eine Stelle aus dem Buch:
Mahmud und Fathiye sind sich uneinig, ob es klug sei, zu dieser Demonstration zu gehen. Und inmitten dieser Diskussion:
Mahmud erinnerte sich, wie sein Vater Ssalech jeden Morgen auf den Hügel im Dorf stieg, nur um wieder auf die Ruinen seines Dorfes Tantura zu blicken. Manchmal ging er auch in der Nacht hinauf und verfolgte den Lichtstrahl, der vom Leuchtturm kam. In seiner Brust verbarg er, was dort geschah, und schaute in die Weite. Den Schmerz verschließ er fest in einer Kiste, mit einem Schlüssel zugesperrt. Die Soldaten, die das Dorf erobert hatten, befahlen, das Geschehene auszulöschen, so löschte er es aus. Sie befahlen, nicht darüber zu sprechen, so schwieg er. Und so schwieg er jetzt schon zweiundfünfzig Jahre lang. Und was erhielt er als Preis für sein Schweigen? Das Leben, wenn man so seine Existenz nennen konnte.
Tantura ist auch der Ort, in der Gegenwart des Romans, wo der Israeli die Palästinenserin erobert. Wieder eine kurze Stelle:
Genau um fünf wartete sie auf ihn. Es regnete in Strömen, die Tage wurden kürzer, und draußen war schon fast dunkel. Autos fuhren an ihr vorbei, einige schnell und bespritzten sie mit schmutzigem Wasser. Schaul hielt seinen Wagen an, wo sie ihn nicht sehen konnte. Es gefiel ihm ihr zuzusehen, wie sie auf ihn wartete. Ihr Kleid und ihre Haare waren schon durchnässt und sie wollte wieder nach Hause, da fuhr er schnell seinen Wagen an sie heran.
"Entschuldige meine Verspätung."
"Macht nichts", sagte sie und versuchte, ihr Zittern zu verbergen.
"Wir fahren zum Strand von Kibbutz Dor, am Ende des Strandes sieht uns niemand."
"Nach Tantura? Mein Großvater ist dort geboren."
"Das ist kein arabisches Dorf, das ist ein Kibbutz."
"Aber damals war da ein Dorf, das hieß Tantura."
Über das Massaker von Tantura hat sich ein sehr lauter Streit entwickelt. Ein Israeli namens Teddy Katz schrieb seine Doktorarbeit an der Uni Haifa zum Thema und wurde schärfstens angegriffen. Sein Doktorvater, Ilan Pappe, der vorgestern hier war, verteidigte ihn und seine Arbeit, aber fand sich schlussendlich exiliert in England.
Wie darf und wie soll an die Nakba erinnert werden? Sie haben bestimmt viel darüber nachgedacht, im letzten Monat, zusammen mit Ilan Pappe und all den andern. Ich möchte hier noch eine letzte Stelle aus dem Buch vorlesen.
Ayat ist die Palästinenserin aus Furadiss, und sie besucht eine hebräische Schule. Ssa'id und Schafiq sind ihre älteren Brüder.
Am Tag der Erinnerung an die gefallenen israelischen Soldaten verlangte Sa'id, dass Ayat nicht in die Schule gehe. "Schau nur, wie raffiniert diese Juden sind, langsam aber sicher bekehren sie dich."
"Niemand bekehrt mich. Ich gehe, und wenn alle für die Schweigeminute still stehen, werde ich der Ermordeten und Vertriebenen von Tantura gedenken. Keiner wird wissen, für wen ich still stehe. Sie sollen denken, was sie wollen. Ich werde der Gefallenen vom Schwarzen September gedenken und der Ermordeten vom Oktober."
Schafiq musterte seine Schwester und sagte seinem Bruder: "Wenn ich den Enthusiasmus meiner Schwester richtig beurteile, so haben wir sie nicht verloren und werden sie nie im Leben verlieren."
"Na gut, soll sie gehen und mit ihnen still stehen", richtete Sa'id. Er hasste den Gedanken, dass Ayat eine hebräische Schule besucht und sagte Schafiq: "Wir werden den Tag noch bedauern, an dem wir sie in diese Schule geschickt haben."
Die Übersetzung ist übrigens von mir, und ich hoffe, ich werde die Gelegenheit erhalten, das ganze Buch zu übersetzen.
Erinnerung und Verschweigen sind eng miteinander verschlungen. Mit jedem Wort, mit dem ich an diese erinnere, verschweige ich viele andere. Das Gedenken an die Shoa ist sehr wichtig. In meiner Familie sind nicht wenige der Shoa zum Opfer gefallen. Aber in der israelischen konkreten politischen Realität bedeutet das Erinnern an die Shoa, dass ich damit die Nakba verschweige und die Unterdrückung der nordafrikanischen Einwanderer in den fünfziger und sechziger Jahren und die Katastrophe der äthiopischen Juden, die zu einem großen Teil auf dem Weg nach Israel gestorben sind und Vieles Vieles mehr.
Aber das Wichtigste ist: Es soll nicht an die Nakba erinnert werden, damit sie auch heute stillschweigend weitergehen kann, tagtäglich. In Israel und in den sogenannten Besetzten Gebieten. Im Negev, in der Jordansenke, in Galiläa, an den südlichen Abhängen der Hebronberge usw. usf.
Und die Berechtigung dafür ist komplex. Einerseits wird ein uraltes Buch dazu herbeigezogen, in dem Milliarden von Menschen lesen, auch ich, in dem steht z.B. im 7. Kapitel des 5. Buches Mose:
Du wirst alle Völker vertilgen, die der Herr, dein Gott, dir geben wird. Du sollst sie nicht schonen und ihren Göttern nicht dienen; denn das würde dir zum Fallstrick werden. Wirst du aber in deinem Herzen sagen: Diese Völker sind größer als ich. Wie kann ich sie vertreiben? so fürchte dich nicht vor ihnen.
Die Bedeutung der Bibel nicht nur für religiöse Menschen, sondern auch für Jugendliche aus traditionellen und sogar nicht-religiösen Familien sollte nicht unterschätzt werden. Der Zionismus war einmal eine laizistische Antwort auf das Judentum. Spätestens seit 1967 haben der Staat Israel und seine Politik aber keinerlei Existenzberechtigung mehr – oh! jetzt habe ich das Wort gesagt! – ohne die Bibel, und insbesondere nicht ohne diese Passagen.
Dazu kommt natürlich die Haltung, Israel sei das Bollwerk des Westens gegen die Überschwemmung des Islams. Diese Haltung ist mindestens 120 Jahre alt, also seit Geburt des Zionismus, und seit dem Beginn des neuen amerikanischen Kreuzzuges im Jahre 2001 ist sie noch stärker geworden.
Vor zwanzig Jahren saß erstmals ein Minister in der israelischen Regierung, dessen wichtigster Programmpunkt die Deportation der Palästinenser war.
Und vor zehn Jahren hieß es in einer offiziellen Webseite des Erziehungsministeriums: גירוש היה מתקבל רע בעולם “Deportation würde in der Welt schlecht ankommen.” Was nichts anderes heißt als:
“Wie lange können wir uns noch darum kümmern, was die Welt denkt??!!! Deportation ist richtig, und uns platzt langsam der Kragen!!!!”
Und wer heute in der Regierung sitzt, das muss ich ja hoffentlich nicht weiter erklären. Warum auch gutgesinnte Liberale oder Linke die Gefahr nicht sehen und immer noch über "Zwei Staaten für zwei Völker" einherreden? Weil sie ganz genau wissen, dass sie im Ernstfall die Kraft nicht aufbringen werden, die Katastrophe zu verhindern.
In diesem Jahr 2012 erleben wir die Generalprobe am Exempel der afrikanischen Flüchtlinge, die en masse vertrieben werden.
Aber noch ist das letzte Wort nicht gesagt. Die Bibel verbrennen nützt in diesem Fall nicht viel, aber es kann nützen, wenn in Europa und in Amerika die Stimmen lauter werden, die gegen die Ängste des weißen Mannes schönere Lieder singen, wie hier Viola und Marwan, und keine nuklearen U-Boote mehr schicken.
//
//