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Heute vor 100 Jahren

Fast unheimlich berührt es einen dass all diese Menschen, die da so fremd vorbeieilen andre Gedanken andre Gefühle alle andre Anschauungen über Glück und Schmerz haben alle andre Liebe erreichen wollen, und schliesslich doch alle ein und derselben Liebe zustreben, dem Liebe der kein Mensch wie hoch oder niedrig er auch gestellt sein mag entgeht. Und nach 100 Jahren wird ein andrer hier stehen und auf die Menschen sehn, andre Menschen, mit andren Gedanken und andren Gefühlen, und ich und die, die ich heute sehe sind Asche und Staub und vergessen.

Olga Manheimer, Mai 1914

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Auszüge aus dem Tagebuch meiner Großmutter:

März 1914

Ich habe mein Tagebuch fast vergessen. Und doch habe ich so viel erlebt, so viel gelernt und so viel Neues gesehen. Es würde mir schwer fallen, alle äusseren und inneren Ereignisse hier noch einmal aufzuschreiben. Was daran bedeutsam ist, oder sein wird, bleibt mir auch so im Gedächtniss. Nur das was mir an Gedanken zufällig durch den Kopf geht, womit ich mich geistig beschäftige, das will ich hier niederschreiben. Meine Lehrerein sagte heute, ich wäre im letzten Jahr reifer geworden. Ich glaube es auch fast. Ich bin wenigstens innerlich ein bisschen ruhiger geworden. Ich bilde mir nicht mehr in hochfahrender Eitelkeit ein, dass ich ein Genie bin oder werde, und ich empfinde es nicht mehr als so schmerzlich, wenn ich erkenne, dass ich keins bin, durchaus keins. Aber ich hoffe doch noch, dass meine Phantasie, und mein Trieb zum Dichten einst in meinem Kinde in potenziertem Masse neu erstehe, dass mein Sohn diese Gaben mit Energie, Fleiss und Ausdauer verbindet, damit aus der Sarasonschen Familie, die ja so viele Gaben, aber leider ebensoviel Schwächen hat, endlich einmal ein echtes Genie herangeht. Glücklich sind, die da geistig arm, wirklich glücklich sind alle die, die sich nicht so quälen mit dem Wunsche, etwas Hohes zu erreichen, mehr zu sein als die anderen Menschen. Es ist so langweilig, nur Durchschnitt zu sein, nur so zu empfinden wie die meisten andern, und es ist so schön, sich einbilden zu können, ich empfinde mehr als die andern, es ist kein abgedroschenes bei jedem neuempfundenes Gefühl, was Dich erschüttert, nein Deine eigne Welt, die keinen ausser Dir ebenso besitzt, die ergreift Dich so. Ich weiss wohl, dass gerade darin Unreife liegt, ich müsste mir eigentlich ein wenig über meine Grenzen klar sein. Aber das ist doch wohl das Grösste, was ein Mensch erreichen kann, zu wissen wo seine Grenzen sind. Natürlich nur für solche Menschen, die sich manchmal oder häufig ihren Altersgenossinnen überlegen fühlen, also nicht vorn herein ihre Durchschnittlichkeit empfinden. – Ich habe mich in der letzten Zeit viel mit Zionismus beschäftigt und zu gleicher Zeit sprachen wir in der Schule von dem Teil der Geschichte, der die deutsche Art, den deutschen Stamm, in so leuchtende Farben bringt. Und ich habe dabei doch gemerkt, dass mich, die doch das religiöse Band nicht mehr an die Juden ketten, das nationale ebenso wenig bindet. Wohl empfinde ich, dass ich Jüdin bin, aber ganz genau so stark fühle ich, eine Deutsche zu sein. Wohl werde ich Jüdin bleiben, solange noch eine Seele für das Judentum streitet, aber nur um den andern zu helfen, nicht meiner selbst willen; denn, weiss ich denn ob die andern Juden nicht religiös und national tief jüdisch empfinden, und deshalb es für sie und ihre Nachkommen erforderlich oder wenigstens wünschenswert ist, einen jüdischen Staat zu gründen?

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October 1913

Wir Menschen sind doch alle ein und dasselbe Kallibar. Wenn wir ganz jung sind, dann sehnen wir uns danach, etwas Besonderes zu werden. Anders zu sein als alle Andern, wenn wir dann größer werden, und unsre Kleinheit im Vergleich zu großen Menschen sehen, und besonders unsre Gleichheit mit den meisten, wenigstens vielen Menschen sehen, dann sind wir verzweifelt. Und das Grässlichste ist es dann für uns, Stimmungen manchmal zu haben, in denen man hätte schaffen können je nach der Begabung, in dem man in sich wirklich die Kraft fühlt, ach diese erhebende, begeisternde Kraft, etwas persönliches schaffen zu können. Aber bei uns Durchschnittsmenschen, die wir keine Künstler sind, gehen diese Stimmungen leider so schnell vorüber, wie sie gekommen sind, und wir haben nicht die Macht, sie zu fesseln. Wenn wir dann schließlich mit Feder und Papier zur Hand sind, ist die ganze Stimmung zum Teufel und man druckselt irgend einen kleinen Brühkram heraus, der fast so ist wie ein Geigenton, der recht schön weich tremoliert sein sollte, und nachher so heult wie ein Hund, der eben Hiebe bekommen hat. Wenn ich meine Dichtungen jetzt lese, wird mir ganz schlecht von der vollkommen unkünstlerischen Art, in der ich sie behandelt habe. Ein ewig holpernder Stiel, ein viel zu sentimentales Gefühlsgedusel, und der Gedanke, der bei allen wenigstens das weitaus Beste ist, kommt durch den Mangel der Ausführung gar nicht heraus. So kommt es denn, dass ich allmählich ein Schriftstück nach dem anderen dem Feuer weihe, und so immer mehr die Gleichstellung mit den anderen besiegele. Das ist noch das Beste dieser kindischen Überhebung oder Eitelkeit, die in mir lebt, sich mehr zu dünken als die andern, und doch gerade in diesem Gedanken viel unreifer und weniger zu sein als gerade die andern, die das Gefühl schon überwunden haben. Und doch ist oft mein Kopf so voll von Ideen, und der Drang, sie zu gestalten, lässt mich dann immer wieder die Feder ergreifen und immer wieder von neuem verzagen. Ich hatte mir immer eingebildet, die Stimmungen, von denen ich beherrscht werde, die mich manchmal die Welt verfluchen und manchmal wieder lieben lassen, in denen ich Tod und Ewigkeit hasse und liebe, in denen ich anbete und verdamme, was ich empfinde – ich glaubte, diese Stimmungen seien künstlerischer Art. Aber wenn man die Augen öffnet, dann sieht man sie überall. Es ist doch auch nicht möglich, dass die Menschen immer so flach sind, wie sie sich in Gesellschaft geben. Und wie mich manchmal nach einem Feste ihre Oberflächlichkeit, ihre Flachheit anekelt, dann muss ich mir sagen: du warst ja gerade so wie sie, wie sie hast Du gelacht über den dümmsten Kram, wie sie hast Du dich schön gemacht, um zu gefallen! Phui! Sie werden gerade so urteilen über Dich, wie Du über sie. Die Menschen sind ja alle ein Kallibar.

Den 21.12.12.

Ich habe seit Februar d. J. keine Ereignisse notiert, und will das jetzt nachholen. Mir ist als ob viel mehr als fast ein Jahr dazwischen liegt. Wenigstens bin ich so ganz anders geworden. Ich bin ja jetzt auch in einem Alter, in dem man sich äußerlich und innerlich kollosal rasch verändert. Also da die Eltern und Herta im Februar eine Verwandtenreise gemacht hatten, ich aber, der Schule halber nicht mit konnte, holte ich das in den Osterferien nach. Die Reise verlief sehr angenehm. Sowohl in Posen als auch in Berlin wurde ich mit Vergnügungen überhäuft; unter andern ging ich auch in Berlin zu Gudrun von Hardt [gemeint ist ein Stück namens "Gudrun" von Ernst Hardt]. Ich war begeistert, obgleich die Sprache seltsam ist, find ich sie schön. Aber das ist ja ein Punkt, über den sich streiten lässt. In Berlin hatte ich das Glück, den kleinen Jungen von Tante Frieda zu sehen. Ein strammer, hübscher Junge mit außergewöhnlich starkem Haarwuchs. 4 Tage alt. Tante Ella und Frieda waren beleidigt, dass ich das Kind nicht ausgesprochen schön fand; denn schön kann ich nie ein so kleines Kind finden, da es immer noch etwas Tierisches, Unwissendes im Gesicht hat. Dort in Berlin wohnte ich bei Tante Rosa, und Paul Hepner hat mir etwas den Hof gemacht. Er ist zum 3-x durchs Abitur gefallen. [Paul, der Bruder von Trude, die die Mutter von Witold und Sonja ist, ist irgendwann in den Dreißiger Jahren in Argentinien verschollen.US] Kurt Heilbronn ist ein ganz gemeiner Junge geworden. Er war voriges Jahr in Hamburg, während Herta und ich verreist waren. Er possierte mit dem Dienstmädchen von Rückerts in ganz gemeiner Weise. Knutschte sie ab. Schloss sich mit ihr in die Mädchenkammer ab, und nachdem , was Frau Rückert uns noch erzählte, wunderten wir uns alle, dass kein Kind ankam. [NB: Wie sie später einschlägig beschreibt, hat sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Ahnung, wie das gehen soll…; DS / Kurt wurde von der GESTAPO 1943 ermordet.US] – Wenn ich auf meine chronologische Niederschrift zurückkomme, so sind also die Osterferien vorbei! In der Schule hatte ich […??] gegen Frl. Dr. [Arendt?], schließlich die schönen, die wunderschönen Sommerferien. Unser Reiseziel war Tirol. Wir fuhren auf Umwegen hin. Zuerst nach Weimar. Eine herrliche, alte Stadt. Ich hatte vorher Charlotte von Stein von Bode gelesen, und es war mir, als ich alle diese alten Häuser und Zimmer sah, wo siech so vieles hatte abgespielt, als wäre ich in die alte Zeit zurückversetzt, und die Geister der Verstorbenen müssten erwachen. Mutti hat eine Begeisterungsfähigkeit wie eine 11jährige. In Goethes Gartenhaus wollten wir alle 4 dichten und Mutti machte den außerordentlich poetischen Anfang: "Hier grüßen uns Schillers Manen [Mannen?] – und Goethes unsterblicher Geist" als Vati dann aber fortfuhr: "Sind nebbich nicht unsre Ahnen" da war mit einem Schlage unser Sinn für Poesie dahin. Wir sahen uns in Weimar also die Stätten Goethes, Schillers, Herders und was mit deren Leben zusammenhängt, aber außerdem besuchten wir das Liszthaus. – Von Weimar gings weiter nach Jena, wo Vati uns die Stätten seiner früheren Tätigkeit zeigte. Von da gings nach Nürnberg. Wir fuhren in der Droschke durch die Stadt. Ach sie ist märchenhaft schön. Das stolze Schloss der Hohenzollern! Die schönen Kirchen, Sebalduskirche mit dem herrlichen Sebaldusgrab von Fischer, die alten Häuser, Hans Sachs und Dürerhaus, die alte verfallene Stadtmauer, ja wirklich, diese Stadt ist märchenhaft. Am nächsten Tag fuhren wir nach München wo Gerhard Peltesohn uns empfing und uns die nächsten beiden Tage herumführte. Auf der Rückreise hielten wir uns ebenfalls in München ein paar Tage auf. Wir sahen von München neben der Stadt selbst, also den Gebäuden etc., die neue Pinakotek, leider, leider die alte nicht, die Glyptotek, die Schachgalerie, das Deutsche Museum, (ich weiss nicht mehr genau, ob es so hiess) das besonders interessant war und dann die Gewerbeschau. Außerdem waren wir in diesen Münchner Kellern wo echte Münchener Cabaretsachen oder Theaterstückchen aufführen. Vom Museum gings nach Habsburg wo wir wahnsinnig schlechtes Wetter hatten, und dann kamen wir endlich nach Zell am See. Ach, wie herrlich war's doch da; mein Herz hüpft vor Freude, wenn ich daran denke. Man lebt so sorglos, so vergnügt, ach, dass all das schon wieder vorbei ist! Gleich am Tage nach unserer Ankunft machten wir eine Tour nach den Krümmlerwasserfällen. Auf dem Rückwege verfolgten uns 3 Jungen, dass es schrecklich war. Aber ganz amüsant. Am nächsten Tag machten wir eine Tour auf den Xberg, ich habe keine Ahnung mehr, wie der Berg heißt. Es ist wenigstens der ganz bekannte Berg bei Zell a.S. auf den jeder Mensch, der in Zell ist, geht [wohl die Schmittenhöhe, DS]. Mutti machte natürlich diese Tour nicht mit, die vorige hatte sie im Wagen und zurück zu Fuß mitgemacht. Auf dem Rückwege vom Xberg machten wir die Bekanntschaft mit einigen Personen, unter denen 2 Herren waren, die uns begleiteten; der eine Herta, der andere mich. Namen hab ich vergessen. Sie waren beide nett und hübsch. H. gestand mir später, dass sie sich in den einen verliebt hatte. Am nächsten Tag machten Vati und ich mich bereit zur großen Tour auf den Glockner. Es war furchtbar heiß und wir gelangten am 1. Tag (halb zerflossen vor Schweiss) auf den Moserboden. Am nächsten Morgen wollten wir weiter. Es war jedoch so nebelich, dass wir unmöglich weiter gehen konnten, außerdem war so viel Neuschnee gefallen, dass die Führer selbst sehr abrieten. So kamen wir am nächsten Tag unverrichteter Sache nach Hause, legten uns auf die Lauer auf guten [gutes?] Wetter. 1 Tag nur warteten wir in Zell; dann war das Wetter wieder so dass wir aufbrachen. Wir hatten jetzt einen anderen [Paar? Plan??] Wir fuhren am Nachmittag nach Bad Fusch und gingen dann bis Ferleiten, nahmen dann einen Führer und gingen noch am selben Abend zur ersten Hütte die 2 Stunden unterhalb des 1. Gletschers lag. Es hatten sich ungefähr 5 Parteien außer uns dort eingefunden, die die 1. Hälfte unserer Tour, die leichte, auch machen wollten. Um 5 Uhr morgens brachen wir auf und stiegen in der frischen Morgenluft ununterbrochen, wir stiegen [nun?] bis 7 Uhr ohne dass wir besonders große Ermüdung in den Gliedern fühlten. Eine Morgentour strengt fast gar nicht an. Dann kamen wir auf den 1. Gletscher auf die Pfandelscharte [Pfandlscharte, Pass, 2663 m.ü.M.]. Es war der 1. Gletscher den ich in meinem Leben sah. Wie ein grosser, majestätischer Strom zwängte er sich zwischen zwei Berge. An der Stelle wo wir standen, floss das Gletscherwasser ab. Eine unglaubliche Menge Wasser ist es, die sich brausend und zischend hinabstürzte ins Tal. Ich meinte, der Gletscher müsste an einem Tage abschmelzen, soviel Wasser floss ab. Die Pfandelscharte ist im Verhältnis zu den anderen Gletschern die ich sah ziemlich klein, und hat fast gar keine Spalten; wenigstens sahen wir keine. Zuvor geht er ziemlich schräg aufwärts, sodass wenn kein loser Schnee [das "Sch" in Sütterlin!] läge man wohl leicht abrutschen kann, und Steigeisen erforderlich sind.

Die 1. Hälfte der Tour war bei weitem die weniger interessante. Ich will damit nicht sagen, dass sie nicht interessant war, nein, das war sie sehr, aber die 2. Hälfte war noch bedeutend interessanter. Wir kamen auch verhältnismäßig sehr früh zur Franz Josepfhütte. Diese Hütte liegt am Pasterziengletscher [Pasterzengletscher], und dies ist ein Gletscher wie man ihn sich nicht großartiger vorstellen kann. So breit wie die Elbe und begrenzt von den mächtigen Spitzen der Bergriesen. Drüben auf der anderen Seite blinkten uns entgegen die Glocknerspitzen, die Glocknerwand, der Johannasberg [sic! – der Johannisberg] ganz und gar mit Schnee bedeckt. Seltsam klar ist den Regionen die Luft. Obgleich man weiß, wie breit der Gletscher ist, so glaubt man doch in ein paar Sprüngen hinüber zu kommen, und obgleich man weiß dass die Glocknerspitze fast 2000 m über uns liegt, wir befanden uns erst in einer Höhe von 2000 m, so glaubt man doch, diese mit ein paar großen Schritten zu erreichen. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass man sich in Schneeregionen befindet, da die Sonne so brütet. Der Gletscher strahlte so grell wieder, dass wir uns Gletscherbrillen aufsetzen mussten, was wir bei der Pfandelscharte, da es noch so früh am Morgen war nicht brauchten. Am Nachmittag, als die Haupthitze, in der man nicht wandern kann, vorüber war brachen wir auf. Wir mussten über den Pasterziengletscher. Bevor wir noch bis hin gelangten erzählte uns der Führer Mordsgeschichten von den gefährlichen Gletscherspalten, was unseren Mut nicht gerade stärkte. Mit Zittern und Zagen betrat ich das Eis, und meinte, ich müsste jeden Augenblick einsinken. Der Führer sagte uns dann aber, dass die Gletscherspalten auf der unteren Pasterze nur zu gewissen Jahreszeiten offen sind, und dass nichts zu fürchten sei. Deshalb wurden wir auch nicht angeseilt. Dennoch kamen wir bei ungefähr 1/2 m breiten Spalten vorbei, über die konnte man ja leicht mit einem Schritt überschreiten. Wenn ich dann in eine solche Spalte hineinsah, in das finstre Dunkel, wo es so geheimnisvoll rieselte und gurgelte, dann schauerte mir. Nach ungefähr 2stündiger Wanderung mussten wir vom Gletscher […] über eine Schneewand zu einer etwas höher gelegenen Partie von Bergen. Die Schneewand zu ersteigen machte uns einige Schwierigkeiten. Der Führer tappte mit schweren Schritten schräg hinauf indem er ungefähr mit seinen großen Stiefeln Treppen schlug. Wir sollten folgen. Obgleich wir uns die größte Mühe gaben, wollte es uns nicht gelingen, wir rutschten immer wieder ab. Ich war ganz ratlos, und malte mir schon aus wie ist da, wenn ich schließlich halb hinauf gelangt wäre, abrutschte und auf dem Eis des Gletschers zerschmettern würde. Aber alles ist nicht so schlimm wie man denkt. Der Führer half uns ein bisschen, haute Treppen mit der Eishacke und, wenn man ein Fuß fest einhackte in die Stufen ging es sehr gut. Oben machten wir Rast. Wir fanden dort oben zwischen dem Steingeröll Moos und in Unmengen Alpenrosen, Alpenveilchen und Edelweiß, auch Enzian. Es war eigenartig, wie mitten zwischen dieser mächtigen, schneebedeckten Gletscherwelt, ein kleines Fleckchen Erde war, wo das zarte Moos wuchs und die kleinen Blümchen in allen Farben prangten. Unter uns lag der Pasterziengletscher, drüben auf den anderen Seite lag direkt vor uns die Gletscherwand. Ein großer Schneewall schien sie uns. Der Führer erzählte uns hier die grausige Geschichte von dem unglückseligen Grafen X. der mit 9 Führern über die Gletscherwand gehen wollte, was sonst keiner wagt, und er und alle 9 Führer abstürzten. Unser Führer erzählte uns weiter wie dann alle Bergsteiger von Ferleiten u. Heiligenblut den ganzen Tag 1000de von Stufen bis zur Gletscherwand hinauf geschlagen haben, um die Leichen zu finden. In Heiligenblut ist allen diesen mutigen Männern die letzte Ehre erwiesen worden. Eine halbe Stunde weiter oben entlang liegt die Hoffmannshütte. In dieser befindet sich ein Zimmer mit 4 Betten. Brennmaterial ist auch vorhanden. Für den Gebrauch der Gegenstände in der Hütte muss man bestimmtes Geld in die Kasse tun. Außerdem ist noch Rettungsmaterial in der Hütte. Das ist aber alles. Wir gingen wieder eine halbe Stunde weiter und kamen zu dem Pasterzienboden. Der große Gletscher hat hier eine Schwenkung nach rechts gemacht und ist nun einige 100 Meter höher. Drüben auf den anderen Seite des Gletschers ragte ein nackter Felsen hervor, worauf eine Hütte war, die wir ganz klein schon sehen konnten. Bevor wir den Pasterzienboden betraten wurden wir angeseilt. Der Führer ging zuerst 3 m Tau Zwischenraum; dann kam ich, und nach wieder 3 m Tau, Vati. Es war inzwischen so kalt geworden, dass ich mir meine Jacke und meinen Mantel anzog und doch noch fror. Diese Tour über den Boden war wohl der anstrengendste Teil unserer Wanderung. Der Schnee [hm… das "Sch" schon wieder in Sütterlin] ging uns bis über die Schuhe [und hier nicht] und das Tapsen in so hohem Schnee [hier auch nicht] ist sehr anstrengend. Wir mussten [zu wieder halten malen stillstehen und ausruhen??]. Dabei schien es uns als ob wir uns überhaupt nicht der Hütte näherten. Die überaus blaue Luft ließ uns die Hütte ebenso deutlich von Weitem wie von Nahem erkennen. Plötzlich hielt der Führer inne, er nahm meinen langen Bergstock und steckte ihn direkt neben uns in den Schnee bis zu seiner Hand. Dann zog er ihn wieder heraus und sagte mit der größten Gleichgültigkeit der Welt: "Das ist eine Gletscherspalte, die ist offen. Hier ist neulich mal ein waghalsiger Wiener gegangen, hat die Spalte nicht gewusst, ist hineingefallen, 20 m tief und war mausetot." Ich war starr vor Schreck und Verwunderung und wagte mich von da ab keinen Zoll breit von den Fußstapfen des Führers fort. Nach 2 Stunden erreichten wir endlich die andere Seite und machten da erste mal ganz ermüdet Rast. Dann blieb uns noch der kurze aber ziemlich schwierige Teil übrig auf die Spitze des Felsens zur Hütte. Der Felsen war so steil, dass ich in beständiger Angst schwebte, ich würde hinunterstürzen. Aber trotzdem machte mir diese steile Kletterei sehr viel Vergnügen. Ich hatte ja auch Sicherheit, da ich angeseilt war. Schließlich erreichten wir die Hütte, 3200m, abends, es war schon etwas dunkel. Wir hatten, jede Rast abgezogen an dem Tage eine 9½ stündige Steigetour hinter uns.

Oben stärkten wir uns an hartem alten Brot, frisches kriegt man nur bei großem Glückszufall dort in den Hütten. Auch die Milch war ausgegangen, und wir mussten uns mit Wasserkakau begnügen. Am nächsten Morgen brachen wir schon um 3 Uhr morgens auf. Es war ganz dunkel. Nur der Schnee leuchtete. Ein schneidender Wind wehte auf der Höhe. Wir mussten die wärmsten Sachen, die wir hatten, anziehen. Wir wurden wieder wie am vorigen Tag angeseilt, und wollten heute über den oberen Pasterzienboden über das Rifflertor den Karlingergletscher hinunter zum Moserboden gehen. Der Schnee war hart gefroren und deshalb sanken wir nicht so tief ein, und konnten also bequemer gehen. Allmählich wurde die Luft immer klarer, da plötzlich blitzte die ganz u. gar mit Schnee bedeckte Kuppel des Johannisbergs blutrot auf, vom Strahl der Sonne getroffen. Und dann ging der rote Schimmer weiter über die ganzen restlichen Bergspitzen, die Glocknerwand, die kleine und die große Glocknerspitze. Die östlichen Berggipfel hingegen warfen lange schwarze Schatten auf den riesigen Pasterzienboden über den wir dahingingen. Jetzt hatte die Luft wieder dieselbe Klarheit wie am vorigen Tag. Wir gingen jetzt direkt am Fuße der Glocknerspitze hin und konnten uns gar nicht vorstellen, dass wir diese nicht in ein paar Sprüngen wie einen Schneehaufen erklimmen konnten. Vor uns lag das Riffler Tor, eine Senkung zwischen dem Johannisberg und der hohen Riffel. Es schien mir immer als wären wir dort in ein paar Minuten angelangt, so gering schien mir die Entfernung, aber sie nahm und nahm nicht ab und nach jeder ½ St. waren wir scheinbar noch eben so weit entfernt wie vorher. Erst nach 2 Stunden Wanderung hatten wir das Tor erreicht, wo der Gletscher ziemlich steil sich hinuntersenkte. Unten lag ganz klar und deutlich das Tal der Moserboden. Ich kann ihn aber eigentlich nicht Tal nennen. Er liegt 2000 m hoch. Es ist mehr eine Bergmulde, die nach einer Seite geöffnet ist und sich ins Tal hinab senkt. [Ab jetzt in Tinte und wieder in Sütterlin…:] Jetzt begann ein schwieriger Abstieg über die breiten Gletscherspalten der Karlingergletscher. Wir machten am Moserboden Rast. Dann ging es weiter bis nach Zell am See. Nach dieser großen Tour hatte ich ordentliche Beinmuskelschmerzen. Mutti u. Herta hatten während unserer Abwesenheit sehr nette Bekanntschaften gemacht. Frau [Milheim?], ein sehr liebe Frau mit einem köstlichen Humor. Ihre Söhne sind ebenfalls sehr nette Menschen. Die Tochter ist ein eigenartiger [?????], trotzig, sehr ungemütlich. Eine Wiener Familie, ich weiß den Namen nicht, war auch sehr nett. Da die nächsten Tage in Zell regnerisch waren, fuhren wir über Salzburg nach Berchtesgaden. Hier wohnten wir auf dem Kälberstein in der Nähe von Marta Lehmann. Aber nur kurze Zeit; denn 1. war es zu unbequem runter immer ins Dorf zu gehen, und es regnete, sodaß wir oben auf dem Berge uns langweilten. Außerdem waren wir in ein Gartenhäuschen ausquartiert [der] wie ein ganzer zoologischer Garten war. Das schrecklichste war, daß die Kakalatschen u. Spinnen besondere Vorliebe für mich hatten. Jeden Abend begann die Jagd. So wie ich ein Tier erspähte schrie ich und lief fort mit Mutti, u. Herta – Vati rüstete sich mit einem Stiefel aus u. ging auf das Ungeheuer los, stellte sich aber immer so ungeschickt an, daß es nie das Tier traf, und es im qualvollem Ungewissen [???]. – Wir zogen also nach einigen Tagen ins Dorf. Hier wohnten wir im Posthotel, wo auch Dr. Simons wohnten. Es sind sehr nette Menschen. Besonders Frau Dr. Die Jungen sind aber auch sehr nette Menschen. Der älteste ist unüberwindlich häßlich. Die Tage waren wundervoll. So sonnig. Wir machten kleine Ausflüge. An einem Tage machten Vati u. ich eine Tour auf den Untersberg. [Puh: hier wieder lateinische Schrift:] Grade an dem Tage goss es wie aus Kübeln. Es war eine schreckliche Tour. Wir kamen bis auf die Haut durchnässt nach Hause. Inzwischen waren Simons ganz plötzlich abgereist. Es war in der Familie irgendetwas vorgefallen. Wir blieben noch einige Tage dort. Es regnete fortwährend. Einmal waren wir auf dem Almtanz u. einmal im Bauerntheater. Wir reisten früher als wir beabsichtigt hatten nach München. Hier hielten wir uns einige Tage auf. Wir hatten ["Wir hatt" in Sütterlin; "en" latein] das Schloss am Chiemsee mit seinem überladenen, zum Teil unechtem Prunk, und das Schloss am Starnbergersee, wo dieser ideale Schwärmer für den Absolutismus und den französischen Hof seinen Tod im See fand. Die Rückfahrt nach Hamburg war sehr gemütlich. Wir fuhren mir Frl. Alsberg u. der junge stud. Alsberg, Kinder des hiesigen Arztes. Um 11 Uhr abends langten wir in Hamburg an. Am nächsten Tage musste ich morgens früh zur Schule.

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D. 20.12.12

Langeweile ist das größte Laster auf Erden. Und augenblicklich ist es langweilig. Darum nimm ich …. Soll man sagen, es gibt etwas Göttliches im Menschen, oder soll man sagen, Mensch ist Mensch, und den Begriff Gott oder Göttliches ganz ausschalten. Wir können für das Göttliche im Menschen eigentlich einsetzen das Moralische im Menschen. Der moralische Grund ist das Band, das uns alle, uns Menschen, zusammenhält. Er ist es, der uns das Streben zum Guten und Schönen einflößt, Er gibt uns die Liebe, die das Höchste im Menschen ist, denn ohne sie würde Gesetzlosigkeit herrschen unter den Menschen. Dann sagen wir: Gott ist dasjenige, was wir nicht fassen können, meinetwegen die 4. Dimension. Sind wir aber zu dieser Überzeugung gekommen, so müssen wir Gott aus unserem Gesichtskreis schaffen, und uns nicht an ihn klammern wie die Religionen. Die christliche Religion ist doch eigentlich eine sehr naive, die sich für den Gott einen Wohnsitz denkt und die Menschenseelen in Engel verwandelt. Und nicht nur so ihn als Wesen mit 3 Dimensionen auffasst, sondern ihn dadurch vermenschlicht, indem man Jesus als seinen Sohn hinstellt, Jesus der Mensch, und Maria die menschliche und dann göttliche Mutter!!!

Dies kann man natürlich idealisieren. Aber es verletzt einen doch, dass ein Gott, dieses Übermenschliche, mit dem Begriff eines Sohnes verbunden wird.

Ich möcht hierbei gleich eine alte Religion, dessen Namen ich vergessen habe, aufschreiben. Sie hat dieselben Fehler, wie die christliche. Es ist eine ganz alte, und schön – zuerst war nur ein ewiger finsterer Abgrund, bis sich die Materie gebildet hat, das war die Tochter des ewigen finsteren Abgrundes. Diese Tochter, die den Anfang zu allen Werden gemacht hat ist die hohe, ewige Weisheit. Sie hat einen Sohn, der die Materie verdichtet, und dies ist der schaffende Gott. . Und nun geht es weiter, wie der schaffende Gott die Menschen schafft, wie sein Ebenbild sich in der Welt wederspiegelt und zwar in der Schlange. Wie dann die blöden von ihm geschaffenen Menschen nach seinem Winke[?] leben, ihm dienen. Wie dann aber einige unter ihnen sind, denen die Mutter Weisheit über seine Schulter hinweg ihren Atem eingehaucht hat, und diese sehen über den schaffenden Gott hinweg, sie werden geleitet von der ewigen Mutter Weisheit, geleitet durchs Leben, geleitet weiter durch alle Irrwege zurück zu dem ewigen finstren Abgrund – zurück zum Vater.

Den 12.2.12

Nebel vor uns, Nebel hinter uns Nebel übrall um uns herum. Und was suchen wir mit unseren Augen in der Ferne? Wir können soch den Nebel nicht heben. Was sollen all die schönen Augen. Sie sehen auch nicht durch den Nebel, und sie werden trübe, trübe. Ganz verschwommen sehen sie die Wege, die sie gegangen sind, aber im Nebel verhüllt liegt vor ihnen der Pfad, den sie gehen müssen. Und keiner geht wieder zurück nach den Urgesetzen der Welt. Alle streben vorwärts durch den Nebel zum Lichte, wohin sie selber nie gelangen. Denn schwach ist der Mensch und schwach ist das Licht des Auges, das nicht hindurchbrechen kann durch den Nebel, der uns alle umgibt. Und wie auch meine Seele lechzt nach dem Lichte, und mein Auge in der Ferne nach der Erkentnis sucht, so werde ich doch nie finden wonach meine Seele ihre Glieder reckt, wonach meine Augen ihr Licht verspenden.

Mein Herz aber weint blutige Tränen. Sei still…. sei still mein Herz. …. Was soll es nützen?

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Hamburg. d. 1.2.1912

Ach mein liebes Tagebuch, ich hab Dich lange vernachläßigt. Aber ich bin entsetzlich schreibfaul. Ich muss in der Schule schon genug schreiben. Zwar bin ich heute eigentlich nicht in der Laune, aber ich habe Zeit. –

Wir wachsen jetzt allmählig immer mehr zu jungen Damen aus. Nun 15 und 16 Jahre! Und wir stehen auch nicht mehr dem Verkehr mit "Herren" so sehr fremd gegenüber wie doch noch vor 1 Jahr. Zwar sind unsre Herzen noch ganz kalt gelieben. Wenigstens kann ich das von meinem mit Bestimmtheit behaupt, wenn auch Herta mir schon "Lieben" zugeschrieben hat. Nun es kann ja noch kommen. – Aber manchmal bekomme ich doch Angst, dass meine Liebe zu schwer zu erwecken ist. Denn ich bin in dieser Beziehung auch furchtbar äußerlich. Ich könnt mich nie in einen hässlichen Mann verlieben. Außerdem muss er sehr klug sein, das ist die Hauptsache. Und ein schöner, kluger Mann wird nicht grade die Olga Manheimer nehmen, dem wird was anderes geboten. Nun aber Schluss mit der Faselei.

Also wir haben dieses Jahr einen späten, aber schönen Winter. Augenblicklich schneit es auch. Jeden Samstag gehts mit [….] und anderem jungen Volke zur Radelbahn. Und Wochentags zur Eisbahn. Heut können wir leider nicht hin, weil die Turnstunde gerade von 6-7 und später ist, wo wir vorher und nachher zu wenig Zeit haben. Ein bißchen werden dabei ja auch die Arbeiten vernachläßigt, na, das holt man ein andermal nach. Ich bin überings, so entsetzlich wenig ehrgeizig, dass es nicht mehr schön ist. Ich denk mir immer es macht später doch nichts aus, ob ich die 1. oder d. 4 d. 10 od. die letzte gewesen bin, wenn ich nuralles glatt bestehe ist es reichlich genügend. Für heute genug. Ein andermal kommen mehr geistliche Ergüsse.

übrings muss ich noch erwähnen, dass wir selber vor einiger Zeit eine kleine Gesellschaft von 10 jungen Damen u. 10 j. Herren bis 20 Jahr gegeben haben. Es war sehr nett. Andermal mehr davon.

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November d. 12  [1911]

2 Monate sind wieder seit meiner letzten Niederschrift vergangen. Ich kann es kaum fassen, dass ich jetzt schon wieder inzwischen um 1 Jahr älter geworden bin. 15 Jahre. Im 16. Jahr. Ach ja, man wird alt. Im September waren wir im ganzen Ring [also alle vier Teile der Tetralogie] unter der Leitung von Nikisch Brunhilde war die Walther, Siglinde war die Fleischer Edel [1875-1928 "She possessed a fine lyric voice but was not particularly noted for her acting."] , Frigga Walt[…] und W[…] war die Metzger, Siegfried – Pennarieni, Wotan [….], Großartig war Herr von Scheidt als Alberich, nicht minder gut Lichtenstein [………………………….] den Gunther. Also, die wundervollste Besetzung, und alle haben großartig gespielt. Nur stach natürlich Frl [….] als Brünhilde ab. Es war aber sch[….], daß alle 4 Stücke in eine Weise gegeben wurde, denn die Walküre sowie die Götterdämmerung strengen einen seelisch so sehr an, daß man es sozusagen erst verdauen muß. – – – Ich schreibe jetzt augenblicklich wieder einen Roman "Irrungen". Ich bin neugierig, wie weit ich es damit bekomme und wann ich wieder etwas neues anfange. – Wir haben zum Geburtstag [?]4 Bücher bekommen. "Das Gemeindekind" hab ich schon gelesen. Es hat mir ausgezeichnet gefallen. Es ist eines meiner schönsten Bücher. D. Chronik der Sperlingsgasse, die ich ebenfalls gelesen habe, reicht meiner Meinung nach an seelischer Tiefe nicht an die übrigen Werke Raabes, die ich gelesen habe heran. Auch finde ich sind die Zeiten, Vergangenheit und Gegenwart manchmal zu sehr durcheinander geworfen. Jedoch liebe ich Raabes Sprache so sehr. Der schöne Humor der überall zum Vorschein kommt. – Eben fällt mir ein, dass wir morgen Latein schreiben. Ein Kribeln kommt mir in den Leib. Ich muß schleunigst schließen und lernen.

Hamburg. d. 1.2.1912

Ach mein liebes Tagebuch, ich hab Dich lange vernachlässigt. Aber ich bin entsetzlich schreibfaul. Ich muss in der Schule schon genug schreiben. Zwar bin ich heute eigentlich nicht in der Laune, aber ich habe Zeit. –

Wir wachsen jetzt allmählig immer mehr zu jungen Damen aus. Nun 15 und 16 Jahre! Und wir stehen auch nicht mehr dem Verkehr mit "Herren" so ser fremd gegenüber wie doch noch vor 1 Jahr. Zwar sind unsre Herzen noch ganz kalt gelieben. Wenigstens kann ich das von meinem mit Bestimmtheit behaupt, wenn auch Herta mir schon "Lieben" zugeschrieben hat. Nun es kann ja noch kommen. – Aber manchmal bekomme ich doch Angst, dass meine Liebe zu schwer zu erwecken ist. Denn ich bin in dieser Beziehung auch furchtbar äusserlich. Ich könnt mich nie in einen hässlichen Mann verlieben. Ausserdem muss er sehr klug sein, das ist die Hauptsache. Und ein schöner, kluger Mann wird nicht grade die Olga Manheimer nehmen, dem wird was anderes geboten. Nun aber Schluss mit der Faselei.

Also wir haben dieses Jahr einen späten, aber schönen Winter. Augenblicklich schneit es auch. Jeden Samstag gehts mit [….] und anderem jungen Volke zur Radelbahn. Und Wochetags zur Eisbahn. Heut können wir leider nicht hin, weil die Turnstunde gerade von 6-7 und später ist, wo wir vorher und nachhe zu wenig Zeit haben. Ein bischen werden dabei ja auch die Arbeiten vernachlässigt, na, das holt man ein andermal nach. Ich bin überings, so entsetzlich wenig ehrgeizig, dass es nicht mehr schön ist. Ich denk mir immer es macht später doch nichts aus, ob ich die 1. oder d. 4 d. 10 od. die letzte gewesen bin, wnn ich nuralles glatt bestehe ist es reichlich genügend. Für heute geug. Ein andermal kommen mehr geistliche Ergüsse.

übrings muss ich noch erwähnen, dass wir selber vor einiger Zeit eine kleine Gesellschaft von 10 jungen Damen u. 10 j. Herren bis 20 Jahr gegeben haben. Es war sehr nett. Andermal mehr davon.

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[ab hier mehrheitlich in lateinischer Schrft]

d. 9.6.11

Vor kurzer Zeit hab ich in dies Tagebuch geschrieben, doch was hab ich in der Zeit alles erlebt! Erst will ich das Traurige erledigen. Der Tod hat schon wieder jemanden aus unserer Familie grausam nieder gerafft. Onkel Emil ist gestorben. [Onkel Emil ist der Grossvater von Gideon, der heute in Kibuz Rewadim im Sueden Israels lebt, und von Maria, die, wie auch ihre drei Kinder Kurt, Heike und Thomas, in Berlin und Umgebung leben.] Gerade einen Tag vor Pfingsten bekamen wir die Nachricht von seinem Tode. Vati reiste nach Posen, und wir verlebten die Feiertage ziemlich still. Vorgestern haben wir jedoch eine wundervolle 2tägige Tour gemacht. Hertas Klasse machte sie mit Herrn Doctor Frl. Beer, Frl. Platz, Frl Schmidt und aus Gefälligkeit nahm Herr Doctor mich auch mit. Morgens am 7.6. fuhren wir um 7 Uhr 14 M zuerst nach Lübeck. Wir durchwanderten die Stadt un, und besichtigten "das Rathaus", dessen Keller, "das Spital", den Dom" und frühstückten dann im Schifferhaus. Um 12 Uhr soundso viel M. fuhren wir mit der Eisenbahn nach Eutin. Dort gingen wir zuerst ins "VoßHaus", daß zu einem Gartenrestaurant umgeändert worden ist. Drt tranken wir Kaffe. Nachdem wir uns noch in Eutin die Stätten wo Voß, Stollberg, Geibel gelebt haben, angesehen hatten und einen herrlichen Spaziergang im Park und um den Eutiner See gemacht hatten, verließen wir Eutin und marschierten weiter um den herrlichen Kellersee, beim Louisengehöft vorbei, bis wir endlich um ½ 7 abends unser Nachtlager am Uhlenseee erreichten. Dort nahmen wir alle ein gut zubereitetes Abendbrot zu uns. Und dan kam die "Pièce resistance" [das Hauptstück – beim Essen: oft großes Fleischstück]. Wir machten nach dem Abendbrot in der Nacht einen Spaziergang um den Uhlensee. Es war eine helle Nacht still und tiefst[….] lag der Uhlensee vor uns. Um ihn herum rauschten die uralten, riesigen Bäume, und wir gingen unter ihnen dahin ganz still. Dort wo ein Quell in den Uhlensee mündet, lagerten wir, und in dunkler Nacht, beim Rauschen der Bäume erzählte Herr Doctor uns die alte Sage vom Uhlensee. Und es war so schön, so wunderschön. Es ist mir unmöglich die Stimmung in Worten wieder herzuzaubern, die bei dem Spaziergang unter uns herrschte. Und weier gingen wir um den Uhlensee, und unsre Seelen erschauderten unter den Schönheiten der Natur. Tief in der Nacht kehrten wir wieder zurück in unser Quartier. Dort tranken wir alle noch unter der 600 jährigen Eiche Himbeerlimonade. Dort wurde [es erst?] interessant. Herr Doctor und 4 andere Schülerinnen schliefen in einem anderen Gebäude als die anderen.

Wir übrigen waren 20 in den Zimmern verteilet

J. OppenheimDeren CousineHedwig

LoewenthalH. u. O.ManheimerWalter Caro Ernst LoewenbergLore SchmidtFrida Loew Amerika (?)Otti HirschfeldErnaBöhleJ. Orchen-desch (?)E. Scheerer

G. Lippstadt181716151413

Wir hatten uns verabredet, alle außer den Jungens in Nr. 14 in Nachthemden zu erscheinen. Selbst Frl. Schmidt, eine Lehrerin von uns kam, und Frida L. kam in einem wunderhübschen Nachthemd, sodaß wir alle glaubten es wäre ein Ballkleid. Doch plötzlich erschien Frl. Beer auf der Bildfläche. Sie war aber leicht zu beruhigen auch zu bleiben, da Frida L. uns etwas vortanzen wollte. Nachdem wir mit […] und Kuchen köstlich bewirtet worden waren, schlug Frl. Beer vor, auf dem Flur zu tanzen, doch als wir alle in Nachthemden hinkamen saßen die Kellner dort und wir stoben auseinander. Da es aber schon nach Mitternacht war zogen wir uns schliesßlich zurück jedoch unterhielten wir uns noch durch alle Zimmer durch, denn das Logis war ein hellhöriges Holzhaus. Schließlich wurde es uns in Nr. 11 u. 19 zu bunt, und wir herrschten nach Ruhe. Jedoch die anderen kümmerten sich nicht. Da wurden die in Nr. 19 so wütend, daß sie den 17jährigen W. Caro anschrien: "Halt's Maul, du dummer Bengel, du Kamel, Renozeroß, Idiot u.s.w. Es half aber alles nicht, es dauerte noch sehr, sehr lange, bis Ruhe eintrat. – Am Morgen machten wir früh noch eine Morgenpromenade. Um 8 ½ erschienen wir am Kaffeetisch und tranken unter der 6000jährigen Eiche den Morgenkaffee. An diesem Tag wanderten wir noch viel um verschiedene Seen. Wir fuhren über den Kellersee, endlich bis Malente und gingen von da aus nach Grenzmühlen am Dieksee, wo wir noch vergnügte Stunden verlebten. Dann fuhren wir zurück nach Lübeck, wo wir 1 ½ Stunden Aufenthalt hatten. In der Zeit gingen wir in ein Kaffee, und stärkten uns an Eis und Kuchen. Wir hatten noch ein[e] sehr, sehr vergnügte Rückfahrt und kamen um 8 1/2 Uhr in Hamburg an.

Auf dieser Seite lade ich das Tagebuch meiner Grossmutter auf. Sie ist genau 100 Jahre älter als mein Sohn, der gerade Bar-Mitzva hatte, und sie lebte in Hamburg.

Die Abschrift habe ich meinem Bruder, Dr. Doron Shmerling, zu verdanken. Im folgenden die aelteren Beitraege vom letzten Jahr:

Dienstag d. 12. 4. 1910. Heute hat mich Mutti zu Hause gelassen, weil ich mich nicht gleich umzog und sie ging mit Hertha allein fort, deshalb bin ich einfach in den Kino gegangen. Wir haben jetzt Turnen nackend, nur in Trikobadeanzügen. Es ist sehr interessant. Hier bei uns ist der Unterricht.  Wir haben noch mit Frau [Mehfisch?]. Leonie Stern, Bertha Karr, [..?] und Gerte [S..] zusammen die Stunde. Unser neues Mädchen ist sehr nett. Sie heißt Luise. Wir haben jetzt leider wieder Schulzeit. Ich hab schlecht angefangen, denn ich hab schon 3 Noten. Der berühmte Pädagoge [Charlman?] gibt uns jetzt Mathematik. Sehr interessant. Mein Vetter Fritz [?!] wohnt neuerdings [d..t] in Hamburg. Er ist ein furchtbarer Prahlhans. Sonst ganz nett. Schluß, denn es schlägt gleich ½ 11, und morgen muß ich früh zur Schule. Ich habe heute schon die Vorstunde vergessen.


Sonnabend d. 26. 2. 1910

In der letzten Zeit hat sich etwas sehr trauriges in der Familie zugetragen. Meine Großcousine Käte Jolowitz ist bei Onkel Julius zu Besuch gewesen und Ella Manheimer war bei uns. Für die beiden hatte Mutti einen Ball gegeben. Am Morgen des Balltages erfuhren wir, dass Käte [Tiphterites? Diphtherie?] habe. Mutti regte sich natürlich sehr auf. Um 10 Uhr klingelten wir bei Jolowitz an, und man sagte uns, daß Käte sich nicht wohl fühle. Mitten im schönsten Tanzen, um ungefähr ½ 1 wurde Vati zu Käte gerufen, die, wie Vati hinkam, schon verschieden war. Mutti konnte sich garnicht trösten. Die Gesellschaft wurde natürlich sofort geschlossen und Herr Dr. Cohn war so freundlich, bei uns zu bleiben bis Vati kam, der den ganz hoffnungslosen Onkel Julius mitbrachte. – Es waren trübe Tage die darauf folgten. Käte hat sich wahrscheinlich von der Amme angesteckt, die ein paar Tage vorher wegen Tiphteritus ins Krankenhaus gekommen war. Sie wurde hier verbrannt und in Posen begraben. —

Onkel Emil ist jetzt hier. Er ist ziemlich kränklich.

Onkel Julius könnte zwar auch Julius Heilbronn sein, aber wahrscheinlicher ist, dass es Julius Jolowicz ist. Großcousine Käte könnte die Frau von Fritz sein, der dann 1912 wieder heiratete. Käte hat drei Enkel in Berlin-Coburg (?)

Onkel Emil ist nach weniger als zwei Jahren im frühen Alter von 50 Jahren gestorben. Sein Enkel kannte ihn nicht. Aber er lebt im Kibbutz Revadim, und wir feierten seinen 80. Geburtstag vor einem Jahr…

Diphterie konnte tödlich sein. Drei Jahre später erst, 1913, mischte von Behring eine Mischung zur Immunisierung.

Freitag. d.  4.2.1910

Vielleicht, ganz vielleicht, fahren Hertha und ich in den Sommerferien nach Frankreich. Wir werden eingetauscht. Ich möchte es furchtbar gerne. Gestern wollte Mutti es ganz bestimmt. Herta wollte, Vati wollte es aber wieder nicht. – Onkel Dietz ist jetzt hier bei uns. Ich mag [ihn] nicht so gern. Sein Wesen ist so abstoßend. –

Neulich haben sich Herta und ich als [Plündenfrndlerinnen?] verkleidet. Ich hab Mutties alten Zopf auf mein Haar gelegt, damit man mein blondes nicht sieht. Das Mädchen von Rückerts, zu denen wir so rauf gegangen sind, hat sich sehr erschrocken, aber Frau Rücker, die dazu kam, erkannte uns.

Die Schule ist die berühmte Schule des Jakob Loewenberg in der Johnsallee 33:

Das Haus, in dem sie und Herta aufwuchsen, ist auch bekannt. Es steht noch immer am Georgsplatz:

Im Vordergrund mein Bruder Dr. Doron Shmerling, der in schwerster Arbeit das Tagebuch entzifferte.

Mittwoch d. 26.1.1910.

Frl. Nathan ist am nächsten Tag nicht mehr auf die Geschichte, die ich im vorigen Niederschreiben erzählt habe, zurückgekommen. In Hamburg ist furchtbarer Schneefall. Der Schnee lag im Schulgarten weit über die Schule. In der ersten Pause sollen die Klassen nicht in den Garten gehen. Aber die 4. Klasse forderte 2 Kinder aus unserer Klasse auf, mit 2 Kindern aus ihrer Klasse sich zu verballern. Herr Dr. erlaubte es auch und es wurde in unserer Klasse gewählt. Ich hatte 21 Stimmen und auch die meisten. Alice Samson und ich mußten sich nun verballern. Sieg war auf keiner Seite. In der Turnstunde waren wir die ganze Stunde im Garten. Wir wurden in 2 Abteilungen eingeteilt und es kam zu einer Schneeschlacht im Jahre 1910. Morgen haben wir wegen Kaisers Geburtstag frei. Sonntag Vormittag war Vati [mit] mir bei Professor Went wegen des Gymnasiums. Er sagte aber, ich sei noch zu jung, und sollte erst im Dezember 1910 wieder kommen. Dann prüft er mich. Kann ich was, komm ich in Obertertia. Kann ich nichts, komm ich in Untertertia.

Donnerstag d. 13.1.1910

Die Hochzeit ist nun vorüber. Der Tischherr von Hertha ist garnicht gekommen. Das Essen schmeckte ganz gut, trotzdem es koscha war. Die Aufführungen klappten, auch unsere Extraufführungen klappten. In der Schule ist gestern wieder was passiert. Als Frl. Kamerahn [?] noch nicht in der Klasse war, liefen eine ganze Menge Kinder auf den Korridor um zu sehen, wann sie die Treppe hochkam. Da sahen sie unsere Klassenlehrerin Natan heraufkommen. Sie wollten in die Klasse. Da hielten aber einige Kinder von innen die Tür zu, was ich gemein finde. Die von außen stießen und schrien, die von innen lachten. Schließlich gelang es, denen von außen die Tür aufzukriegen und mit einem Gepolter stürzten alle auf ihre Plätze. Gleich darauf kam Natsche hereingetrampelt, ganz rot vor Ärger, und fragte wer eben auf dem Korridor war. Eine meldete sich. Meine Freundin Alice Samson die hinter uns saß, bestürmten wir, sie sollte sich melden, weil sie sonst eine noch schlimmere Strafe für Unehrlichkeit bekäme. Als Natan zum 2. Mal fragte meldete sich auch Alice.  So waren es 2. Schülerin[nen] da frug sie jeden einzelnen ob er draußen war und die, die draußen waren logen ihr frech ins Gesicht. Natan sagte darauf, daß sie es später weiter untersuchen wird. Frl. Kamerahe die inzwischen dazugekommen war sagte sie sähe daraus, was für ein Klassengeist in unserer Klasse sei, daß sie so unehrlich sind. Wir, die wir nicht bei der Sache beteiligt waren, sollten bei den anderen bewirken es Natan zu melden daß sie draußen waren. Eine die es heute sagen wollte fehlte wegen Kopfschmerzen, was uns sehr verdächtig scheint. Heute haben sich noch 2 weitere gemeldet. Heute war Natsche sehr wortkarg. Sie ließ uns schriftlich rechnen, was uns sehr angenehm war. Sie erwähnte garnicht das gestrige Vorfallen. Nur einmal machte sie eine Bemerkung dazu. Na morgen wird die Geschichte ja wohl wieder weiter gehn. Ich bin schon neugierig.

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