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Mit aller Kraft verdrängt

Entrechtung und Verfolgung "nicht arischer" Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945 (Studien zur Jüdischen Geschichte 11) (Broschiert)

von Anna von Villiez (Autor), Institut f. d. Geschichte d. dt. Juden (Herausgeber). Dölling und Galitz Verlag GmbH München-Hamburg

ISBN: 978-3-937904-84-9

Als Dr. Montgomery zum Vorstand der Ärztekammer ernannt wurde, erhielt er mit dem neuen Posten eine schwierige Erbschaft: Im Giftschrank seines neuen Büros befand sich ein Heft mit einer langen Liste aller "nicht-arischen" Ärzte und Ärztinnen (gekennzeichnet mit einem kleinen Davidstern neben ihrem Namen). Er entschloss sich, unverzüglich die Herausforderung auf sich zu nehmen und darüber zu sprechen, worüber so lange geschwiegen wurde.

Über die Vorbereitungen zu diesem Buch hörte ich zum ersten Mal, als die Autorin Anna von Villiez sich an unsere Familie wandte, um Einzelheiten über die Eltern meiner Mutter zu erfahren, Dr. med. Olga Becker-Manheimer und Dr. med. Hermann Becker.

Im zweiten Teil des Buches, das in diesen Tagen nach sechsjähriger Forschung und Vorbereitung erschien, befinden sich Kurzbiographien fast aller 423 Ärzte und Ärztinnen, über die von Villiez im ersten Teil schreibt. Dieser erste Teil ist das Resultat der Doktorarbeit der Autorin, und er ist sehr bedeutsam: Jeder vierte Arzt und jede dritte Ärztin in Hamburg wurde seit 1933 als "nicht-arisch" verfolgt. Die "Reinigung" des Berufes war für die Nazis von großer Bedeutung, denn die Ideologie der "Rassenreinheit" war nicht nur eine geistige Angelegenheit, sondern auch eine ausgesprochen medizinische. Die Ärzte waren ein wichtiges Glied in der Verwirklichung der nationalsozialistischen Ideologie, und deswegen entschied die "Reinigung" dieses Berufes, in ihren Augen, über Erfolg oder Misserfolg.

Im ersten Kapitel wird der Forschungsrahmen vorgestellt: Zwei Drittel von mehr als 400 Ärzten und Ärztinnen (ohne Zahnärzte) waren Mitglied einer jüdischen Gemeinde, die anderen definierten sich nicht als Juden. Der Prozentsatz der Frauen stieg in den 20er Jahren rapide an, eine Neuigkeit in diesem Beruf.

Im zweiten Kapitel beschreibt die Autorin die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in der Hamburger Ärzteschaft. Sie zitiert zum Beispiel eine Ärztin, die zugab, dass es unter den Juden Ärzte gab, die andern jüdischen Ärzten halfen. Natürlich war genau dies einer der Hauptpunkte der Nazi-Demagogie. Aber diese Vorwürfe blieben nicht ohne Antwort, und auch die Autorin selber stellt fest, dass so ein Vorwurf nicht bewiesen werden kann. (S. 47-48)

Ein spezieller Abschnitt im Kapitel widmet sich dem israelitischen Krankenhaus in Hamburg, das Heinrich Heines reicher Onkel im Jahre 1840 gründete, und in dem die meisten Patienten keine Juden waren. Das Krankenhaus befand sich in St. Pauli und brachte so allerhand Leute ins Haus: Matrosen aus aller Welt, Fischhändlerinnen vom Markt, Verbrecher, viele Dirnen und weiteres. Einer der Ärzte erzählt, die Patienten hätten sich gesagt: "Hest dien Kopp, Rüker oder Büx verloren, go zu das Schudenkrankenhaus, se fixt di wedder torecht. De Doktor dor sind nicht etschepetetsche, du kann sie allens verteilen." (S. 54)

In den nächsten Kapiteln erzählt von Villiez über das große Gewicht, das die jüdischen Ärzte und Ärztinnen in der Entwicklung der öffentlichen Krankenkassen hatten; über die Erstarkung der örtlichen Nazis, auch unter den Ärzten; über den ersten Schlag, gleich nach der Machtergreifung Hitlers; und über die verängstigte Wartezeit derjenigen, die danach noch blieben.

Das fünfte Kapitel ("Eskalation und Wendepunkt – das Jahr 1938") handelt vor allem von der Emigration. 46 Ärzte und Ärztinnen aus Hamburg verließen Deutschland schon 1933 (wie die Eltern meiner Mutter), danach weniger, aber dann, 1938, 67 und 1939 85 (zum Beispiel der Onkel meiner Mutter). Insgesamt gelang 324 Ärzten und Ärztinnen die Flucht, und das ist eine große Mehrheit. Nur wenige blieben und wurden zum großen Teil ermordet (wie der Onkel meiner Großmutter). Fast die Hälfte der Emigranten (155) erreichten die USA, 59 Palästina und 26 Großbritannien.

Die Autorin schreibt abwechslungsweise über Emigration und Flucht. Sie versucht nicht, die beiden Begriffe akademisch auseinanderzuhalten, das wäre auch ziemlich schwierig. Meine Großeltern hätten Hamburg wahrscheinlich nicht verlassen, und sie flüchteten (1933), als noch keine nackte Lebensgefahr bestand. Der Onkel meiner Mutter, Hans Lewin, hat New York im Juni 1939 erreicht. Das Leben in Hamburg war unerträglich geworden, und in Amerika erwartete er ein besseres Leben. So dachten sehr viele. Heißt das, dass sie nicht flüchteten?

Von Villiez beschreibt ausführlich die Schwierigkeiten, mit denen die Emigranten konfrontiert waren: Die Konkurrenz war groß, die meisten konnten ihre Karriere nicht vom gleichen Punkt weiterführen, wenn überhaupt. Die zweite Hälfte, die erst nach 1937 emigrierte, hinterließ alles, das wenige was noch vorhanden war. Ganze wissenschaftliche Bibliotheken, ärztliche Apparatur, Wohnungen und Inventar, alles wurde in öffentlichen Auktionen versteigert, manchmal in den verlassenen Wohnungen selber. So ersteigerte ein "arischer" Arzt 450 medizinische Werke von Adolf Calmann, der in letzter Minute nach Uruguay geflohen war, für fünf Reichsmark. Nichts wurde versteckt gehalten, weder von der Bevölkerung noch von den Kollegen. (S.141)

Während der Lektüre des ersten Teils mit seinen sieben Kapiteln fand ich mich immer wieder im zweiten Teil, mit den über 400 Biographien und meistens auch eine Photographie, sorgfältig jahrelang recherchiert, und lernte so die Hauptfiguren der Forschung besser kennen.

Das sechste Kapitel stellt das schlimme Ende dar. Während der Kriegsjahre sprach man schon nicht mehr von professionelle Beeinträchtigung, von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, es ging, auch für wer einmal Krankenhausdirektor war, ums nackte Überleben. Die Wenigen, die nach Ausbruch des Krieges noch blieben, waren alt, oder solche, die dachten, sie würden nicht beeinträchtigt, denn sie selber sahen sich nicht als Juden. Sie hatten vielleicht eine jüdische Großmutter, aber gehörten zu keiner jüdischer Gemeinde, und das nationalsozialistische Hamburg wollte sie nicht. Im Oktober 1941 begannen die Transporte, und im Juli 1942 war die Aktion beendet, 23 der deportierten Hamburger Ärzte kamen in das "Altersghetto" Theresienstadt. Hermann Bohm berichtete nach dem Krieg Arthur Lippmann, der inzwischen nach Neuseeland emigriert war:

"in Theresienstadt waren von Hamburgern außer mir noch 13 Ärzte und 3 Ärztinnen, ich bin der einzige Überlebende. Es endeten dort oder in Auschwitz: Korach, Adam, Sarason, Zacharias, Stern, Peltesohn, Lehr, Mendel, Majud, de Castro, Fränkel, Glaser, Borgzinner, Schindler, Jonas, Meyer-Arends. Nicht einmal ihre Asche ist vorhanden. Alle Aschekästchen wurden in die Elbe geworfen, als die Banditen sahen, dass die Sache für sie schief enden würde."

(S. 141-142)

Das Buch befasst sich nicht mit politisch verfolgten Ärzten, die nicht auch als "Nicht-Arier" verfolgt waren, aber im siebten Kapitel, das sich mit der Zeit nach Krieg befasst, kommen sie zur Sprache, im Zusammenhang mit dem Kampf um die "Entnazifizierung". Die britischen Okkupationskräfte waren weniger gründlich diesbezüglich als vergleichsweise die französischen oder amerikanischen. Zu dem sahen die Briten ein zusätzliches Problem vor sich: Von 53 Leitern der Gesundheitsverwaltung waren nur fünf keine NSDAP-Mitglieder. Die Briten befürchteten, das Gesundheitswesen in Hamburg würde zusammenbrechen, wenn alle Parteimitglieder entlassen würden. (S. 148) (So zimperlich waren die Briten allerdings nicht, als sie im Juli 1943 fast ganz Hamburg dem Erdboden gleichmachten.)

In gewisser Weise ist dieses Kapitel das Schlimmste im ganzen Buch. Kann etwas schlimmer als Theresienstadt und Auschwitz sein? Vielleicht die Tatsache, dass die Befreiung weder Anteilnahme, noch Rehabilitierung, noch Bitte um Verzeihung mit sich brachte.

Rudolf Degkwitz war einer der politisch Verfolgten, und er stand der Kommission zur Entnazifierung vor. Als er verstand, dass er verloren hatte, trat er zurück und emigrierte in die USA (S. 155). Drei der "nicht-arischen" Ärzte, die emigrierten, machten dies in den ersten drei Jahren nach dem Krieg.

Theodor Matthies war der Stellvertreter des "Ärzteführers" von Hamburg. Nachdem seine Suspendierung im Oktober 1949 aufgehoben wurde, eröffnete er eine Praxis und führte diese noch bis 1973 weiter. (S. 154) Im Jahre 1951 schrieb er einen Protestbrief an die Hamburger Ärztekammer gegen das Vorhaben, das Gebäude der Ärztekammer der vorigen (jüdischen) Besitzerin zurückzugeben. Das ist nicht weiter erstaunlich. Was viel erstaunlicher ist, schreibt die Autorin, war die Antwort des Ärztekammer-Präsidenten Wilhelm Parow:

"Die ÄK hat bereits vor längerer Zeit die Angelegenheit des Hauses An der Alster 49 zwecks Bearbeitung dem Rechtsanwalt Dr. Fett übergeben. Selbstverständlich ist die ÄK sich im Klaren darüber, dass unter allen Umständen versucht werden muss, dieses Objekt zu halten. Dr. Fett hat uns aber den m.E. guten Rat gegeben, die Angelegenheit nicht sehr schnell zu betreiben, da damit zu rechnen ist, dass bei längerem Abwarten die Lage für die Ärztekammer sich günstiger gestaltet. Bei den Entnazifizierungsverfahren ist auch in der ersten Zeit viel schärfer verfahren worden als einige Zeit später. Ebenso wird es wahrscheinlich mit den Häusern der früheren jüdischen Besitzer werden."  (S. 165)

Und dieser Ärztekammer-Präsident Wilhelm Parow, der diese Zeilen schreibt, im Jahre 1951, wurde als sogenannter "Vierteljude" diskriminiert und beruflich benachteiligt.

Doch heute sieht die Ärztekammer anders aus. Der heutige Präsident Dr. Frank Ulrich Montgomery tat alles, um die Forschung für dieses Buch voranzutreiben. Bei der Lesung zu diesem Buch, am 14.9.09, war der Saal der Ärztekammer gefüllt mit mehr als 200 Interessierten. Wir, die Nachkommen der Verfolgten, waren nur eine kleine Minderheit, alle andern waren Hamburger Ärzte und andere Hamburger, den die Sache am Herz liegt.

Was mich am Buch am meisten berührte, erscheint auf der letzten Seite (S. 456) und war auch an diesem Abend spürbar: Das Buch kam zustande mit finanzieller Hilfe der Hamburger Ärzte. Ein Spendenaufruf der Ärztekammer hatte Erfolg, und so konnte von Villiez zum Beispiel auch nach Israel reisen, um Kinder und Enkel zu interviewen.

Diese Rezension ist die deutsche Uebersetzung des hebraeischen Originals, das in der israelischen Aerztezeitschrift "Harefuah" im Juni 2010 erschien.

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